(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/03, 13) < home RiV >

Frankfurter Turbulenzen

- Rudolf Wassermann erinnert sich -

 

I.

 

„...vielleicht wird man eines Tages darüber aus Wassermanns Feder ... lesen können“, stand unlängst in den MHR geschrieben[1]. Nun liegt ein Teil seiner Erinnerungen vor:

„1968 – Wie es wirklich gewesen ist[2]. Ein kühner Titel, denn die 68er füllen inzwischen lange Bücherregale: mit ihren Flugschriften und eiligen Traktaten von damals[3], mit verklärend-beschönigender Literatur aus der Rückschau[4], aber auch mit harten Abrechnungen: damaligen[5] und auch späteren - aus Konvertitenfeder (Klaus Rainer Röhl, der Ex-Mann Ulrike Meinhoffs, ist nur ein Beispiel dafür[6]) – und vielem mehr[7]. Wer damals im Universitätsbetrieb stand – als Student, Beamter, Akademiker oder Professor – empfing, so oder so, seine bleibenden Eindrücke. Der seinerzeit bekannte Hamburger Theologe Helmut Thielicke schrieb in seinem Rückblick „Zu Gast auf einem schönen Stern“[8]:
„... Dieser schauerliche Vormittag leitete für einige Jahre fortdauernde Unruhen ein, in denen Dienstzimmer und Seminare besetzt, die Wände mit roten Parolen beschmiert – „brecht dem Senat die Gräten, alle Macht den Räten!“ – und nicht wenige Professoren durch Massen-„go-ins“ und Protestgebrüll terrorisiert wurden. Einer der Hauptleidtragenden war mein Kollege und Freund Hans Wenke. Er kam als Schulsenator nach Hamburg und gründete später die Universität Bochum. Die radikalen Studenten bauten gleich neben seinem Dienstzimmer einen Stand mit Schmähschriften und Flugblättern gegen ihn auf, so dass der Gang zu seinem Raum stets ein Spießrutenlaufen war. Seine Vorlesungen im Audimax wurden auf Veranlassung des Wortführers Oberlercher
[9] – den Wenkes Arzt als schuldig an dessen Tod bezeichnet – durch Hunderte von Eindringlingen immer wieder gewaltsam gestört. Er stand der kochenden Menge viermal auf seinem Katheder allein gegenüber, kam nicht zum Lesen und musste den Saal jeweils unter höhnischem Geschrei und physischen Zudringlichkeiten verlassen, bis er nach tapferem Kampf aufgab. Professoren sind für solche Vorfälle im allgemeinen konstitutionell nicht besonders ausgerüstet ...“.

 

II.

 

Und wie stand es damals mit der Justiz und ihren Richtern? Dazu gibt Wassermanns Rückschau auf seine Frankfurter Zeit der Jahre 1968/69, von dem hier nur einiges wiedergegeben werden kann, bemerkenswerte Einblicke:

 

„... Als ich Ende April 1968 nach Frankfurt am Main kam, um dort das Amt des Landgerichtspräsidenten zu übernehmen, war ich mit den Methoden der Studentenrevolte bereits aus Berlin vertraut. Mir war klar, dass die Krawalle im Zusammenhang mit Demonstrationen, die Vorlesungsstörungen, die Belagerungen und die Gebäudebesetzungen keine punktuellen Ereignisse oder Randerscheinungen waren, sondern politische Aktionen“...

 

„Rechtlich und politisch gesehen, bestanden die Provokationen, die den an amerikanischen Universitäten wie Berkeley erprobten Mustern entlehnt waren, aus Normverletzungen, die nach der Rechtslage die Polizei zum Einschreiten zwingen mussten, wogegen man sich dann als „Angegriffene“ durch „Gegengewalt“ zur Wehr setzte. Auf solche Weise sollte die „abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewissheit“ werden. Solange die Provokationen spielerischen Charakter hatten – etwa in Gestalt von situationistischen Aktionsformen wie Spaziergangsdemonstrationen nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung -, ging die Rechnung auf. Aber dabei war es nicht geblieben.

 

Im April 1967 hatten zum Beispiel 2000 Demonstranten den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey bei seinem Berlin-Besuch mit antiamerikanischen Sprechchören, Trans­parenten, Flaschen, Steinen, Eiern und Mehltüten empfangen. Nachdem am 22. Mai in Brüssel ein Kaufhaus in Flammen aufgegangen war, verteilte die Kommune 1 in Berlin, die sonst vornehmlich durch freie Sexualität die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog, Flugblätter mit der Überschrift: „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ Ende Mai verbreiteten die Studenten „Steckbriefe“ mit dem Konterfei des Schahs von Persien, der Anfang Juni nach Berlin kommen sollte, und forderten die Bevölkerung auf, alle „Aktionen zur Unschädlichmachung des Schahs“ zu unterstützen. Ein persischer Student namens Nirumand hatte die Stimmung durch Broschüren mit bewegenden Schilderungen
über die brutale Unterdrückung der Regimegegner im Iran angeheizt. Vor der Deutschen Oper in Charlottenburg kam es am 2. Juni 1967 zu Tumulten, als der Schah dort eintraf. Auf Veranlassung des machtbewussten damaligen Regierenden Bürgermeisters Albertz bahnte die Polizei dem Schah mit großer Härte den Weg, kesselte die Unruhestifter ein und drängte die Eingekesselten in die Krumme Straße in Charlottenburg, wo es Widerstand gab und ein Polizeibeamter den Demonstranten Benno Ohnesorg erschoss. Der Tod dieses Demonstranten, für dessen Sohn ich mich später auf Bitten der Mutter beim Berliner Senat verwandte, wurde zum Fanal. Daneben sorgten Politclowns wie Fritz Teufel und Rainer Langhans in Moabit, wo sie vor Gericht standen, durch Provokationen der Justiz dafür, dass die Maxime, die Revolution müsse Spaß machen, nicht in Vergessenheit geriet, ebenso Studenten und Studentinnen, die durch Entblößungen die Justiz zu verunsichern glaubten. Höhepunkt der Geschmacklosigkeit war das Urinieren auf den Richtertisch“....

 

„Bei meinem Amtsantritt waren die Demon­strationsverfahren beim Amts- und beim Landgericht bereits im Gange. Der Ausdruck „Demonstrationsprozesse“ betraf im Grunde nur einen Teil der Verfahren, nämlich strafbare Handlungen im Zusammenhang mit den vielen Demonstrationen, die damals stattfanden. Außerdem beschäftigten Gewaltaktionen unterschiedlicher Art die Gerichte, so der Sturm auf das Amerika-Haus am Rande des Frankfurter Westends (7. September 1967), die „Anti-Springer-Aktion“ auf der Buchmesse im Oktober 1967 und das Go-in bei einer Vorlesung von Carlo Schmid, der einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität innehatte, aber auch als Bundesminister der Bundesregierung angehörte. Aufsehen erregten auch die Besetzung des Rektorats, die von gewalttätigen Auseinandersetzungen im Foyer begleitet war, die gescheiterte Erstürmung des US-General­konsulats in der Siesmayerstraße am 5. Februar 1968 im Anschluss an eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg („Waffen für den Vietcong“), die Beschädigung des Zürich-Hochhauses am Opernplatz, der Sturm auf das Polizeipräsidium am 29. Februar 1968.

 

Als Fanal gedacht war der Kaufhausbrand in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968. Die Brandsätze im Kaufhaus Schneider und im Kaufhof auf der Zeil wurden von den späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin zusammen mit dem Studenten Thorwald Proll und dem Schauspieler Horst Söhnlein gelegt. Die vier waren zum SDS-Kongress nach Frankfurt gekommen, der am Wochenende zuvor stattgefunden hatte. Die Tat war im SDS umstritten, aber der Kommunarde Fritz Teufel fand Beifall für seine Erklärung, es sei besser, ein Warenhaus anzuzünden als zu betreiben.

 

Zur Vorgeschichte der Kaufhausbrandstiftung gehörte, dass sich in Brüssel in einem Kaufhaus eine Brandkatastrophe ereignet hatte, in der 200 Menschen umgekommen waren. Die Berliner Kommune 1 hatte in einem Flugblatt den Brüsseler Kaufhausbrand als nachahmenswertes Beispiel für eine revolutionäre Tat hingestellt. Fritz Teufel und Rainer Langhans waren als führende Kommunarden für das Flugblatt verantwortlich, wurden aber vom Landgericht Berlin von der Anklage freigesprochen, weil das Gericht das Flugblatt als Satire wertete. Nun war in Frankfurt am Main aus der Satire bitterer Ernst geworden, was die Bevölkerung schockierte “ ...

 

„So also war die Lage, die ich in Frankfurt vorfand. Es herrschte insgesamt eine aufrührerische, revolutionäre Stimmung. Die Frankfurter Universität war ein brodelnder Kessel, der immer wieder überlief. Hinzu kam, dass die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Bundestag bevorstand. Nicht nur der SDS, sondern auch die IG Metall, deren Bundesvorstand seinen Sitz in Frankfurt hatte, setzten dieses Vorhaben mit der Abschaffung der Demokratie gleich, und so ähnlich dachte auch der in Frankfurt sehr starke linke Flügel der SPD. Einen Vorgeschmack von der Erregung, die um sich gegriffen hatte, bekam ich, als ich im Parteihaus in der Fischerfeldstraße in Vertretung des Hessischen Justizministers Johannes Strelitz einen Vortrag über die Justizreform hielt, worum mich dieser gebeten hatte.

 

In den folgenden Wochen setzten die Unruhen ein, auf die mich Strelitz vorbereitet hatte. Auf Vorlesungsstreiks und militante Demonstrationen reagierte der Universitätsrektor Ruegg, der aus der Schweiz stammte, mit der Absage von Lehrveranstaltungen. Von Studenten wurde die Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Karl-Marx-Universität umbenannt und zu einer „Politischen Universität“ ausgerufen, die neue Lehrinhalte an die Stelle der alten setzen sollte. Auf einem Empfang bedeutete mir Otto Brenner, dass es den Gewerkschaften bitterernst mit ihrem Kampf gegen die Notstandsgesetze sei und sie die geplante Einfügung des Widerstandsrechts in Art. 20 des Grundgesetzes als bloße Augenwischerei betrachteten. Es waren dann aber trotz der gewerkschaftlichen Demonstrationen doch die Studenten, deren gewaltsamer Protest gegen die Notstandsgesetzgebung das Bild, das Frankfurt in diesen Wochen bot, beherrschte. In der letzten Mai-Woche besetzten studentische Not­stands­­gegner das Rektorat der Universität, das sie zu ihrer Aktionszentrale machten. Schränke wurden aufgebrochen, Akten durchwühlt und entnommen. Unter den Besetzern befand sich übrigens Joseph („Joschka“) Fischer. Nach einer studentischen „Siegesfeier“ boten die Räume ein Bild des Chaos, bis die Polizei dem Spuk ein Ende machte und die Räume einige Tage später in ordentlichem Zustand dem Rektor zurückgab.

 

Mehrfach wurde seit April 1968 gefordert, die Justiz planmäßig mit Störaktionen zu überziehen, um sie als nur scheinbar unabhängige Instanz und tatsächlichen Büttel faschistischer Staatsgewalt zu entlarven. Zu denen, die eine solche Justizkampagne propagierten, gehörte der schon erwähnte Berliner Kommunarde Fritz Teufel, der in Berlin die Strafrichter mit Clownerien und Frechheiten zur Verzweiflung getrieben, aber auch für Nachdenken gesorgt hatte, als er der Aufforderung des Gerichtsvorsitzenden zum Aufstehen mit den Worten nachkam: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient ...“

 

Im Juli 1968 war es dann soweit, dass der SDS zur offensiven Justizkampagne aufrief, mit der durch „eigene Aktionen kritische Öffentlichkeit erzwungen“ und die Justiz als „Büttel der Obrigkeit“ entlarvt werden sollte. Zur Deckung der Kosten wurde ein Rechtshilfefonds gegründet, dessen Kuratorium auch die Rechtsanwälte Mahler (Berlin) und Hannover (Bremen) sowie der kampagnenerfahrene Klaus Vack, Vorsitzender des Kuratoriums der Kampagne für Abrüstung, angehörten, ferner viele Professoren, darunter recht bekannte.

 

Das war eine unmissverständliche Herausforderung für die Justiz wie für mich persönlich. Die Strategie der Studenten zielte nun darauf, mit ihren Aktionen eine Reizschwelle zu erreichen, die die Justiz, die an sich an einer Deeskalation interessiert war, zum Eingreifen zwang, was wiederum bei den Studenten und linksliberalen Intellektuellen zu Solidarisierungen führen sollte und auch führte.

 

Einen kollektiven Striptease junger Frauen wie in Hamburg gab es in Frankfurt nicht, auch keine plötzlichen Richter-Kuss-Aktio­nen, die dann im Blätterwald Furore machten. Aber im übrigen wurde so gut wie die ganze Skala des Verhöhnens und Verächtlichmachens durchexerziert, von der Verweigerung des Aufstehens bis zum Frühstücken, Plaudern, Lärmen und Absingen von revolutionären Liedern im Sitzungssaal. Hinzu kam die den Studenten in Kalifornien abgelauschte ironisch-witzige Art, bei der Befolgung von Regeln diese lächerlich zu machen.

Dass diese Taktik leicht die recht unbewegliche Routine der Richter und Staatsanwälte überfordern konnte, hatte sich in Berlin-Moabit in der Reaktion auf die Verulkung durch Teufel und Langhans gezeigt. Ich hatte 1965/66 auf Richterversammlungen, Richterfortbildungstagungen und in der Presse für ein modernes, demokratisches und liberal-soziales Richterbild plädiert, das Veränderungen im gerichtlichen Verhandlungsstil einschloss. In Aufsätzen und Interviews hatte ich gegen die Hierarchie bei den Richtern polemisiert, auch die Beseitigung der beamtenrechtlichen Titel gefordert. Das hatte großes Interesse und auch viel Zustimmung gefunden.

 

Nun verunsicherten die Studenten die Richter (auch und gerade diejenigen, die reformbereit waren und die Demokratisierung mittrugen), indem sie die Justiz ohne Rücksicht auf das, was in dieser geschah, zum Feindbild aufbauten. Von der Gewaltenteilung hatten selbst ihre Wortführer nichts begriffen, noch weniger von der Kontrollfunktion der Rechtsprechung gegenüber der Exe­kuti­ve und der Legislative. Die Liberalisierung und Demokratisierung der Justiz stellten sie als Tricks des Establishments hin, die der Verschleierung der in der Justiz verkörperten Repressionsmacht dienen sollten.

 

Die Richter waren naturgemäß nicht bereit, die Angriffe widerstandslos hinzunehmen, was die Auseinandersetzung verschärfte. Wie in Berlin, so zeigte sich auch in Frankfurt, dass die Richter und Staatsanwälte auf die von den Studenten angewandte Verulkungsstrategien, die ihre „Happenings“ von der Universität auf den Gerichtssaal übertrugen, nicht mit dem Florett reagierten, sondern mit schwerem Säbel fochten. Die Folge war, dass die Angeklagten die Lacher auf ihrer Seite hatten. Nicht nur die Presse belustigte sich, sondern mit ihr auch große Teile der Bevölkerung. Es kam zu unschönen, die Justiz ins Lächerliche ziehenden Szenen, etwa wenn ein Gerichtsvorsitzender mit wehender Robe im Gerichtssaal Jagd auf Ruhestörer machte. Eine meiner ersten Aufgaben sah ich deshalb darin, einerseits Gelassenheit zu predigen, andererseits den Happenings den Gegenstand wegzunehmen, indem die Richter mein Postulat akzeptierten, wonach zur Strafrechtsreform ein neuer, liberaler und humaner Richtertyp gehöre, der sich nicht als Büttel der Staatsgewalt begreift, sondern als Garant freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit, menschlicher Würde, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Ordnung. Die Demonstrationsprozesse wertete ich nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für den neuen Richtertyp.

Noch hoffte ich, die Angriffslust der Studenten dämpfen zu können“...

 

„Zum „Sturm“ auf das Landgericht kam es am 24. September 1968 bei der ersten Verhandlung gegen einen Osterdemonstranten, der Steine auf einen Polizeibeamten geworfen hatte. Um nicht in den Ruf zu kommen, dass die Öffentlichkeit der Verhandlung nicht gewährleistet sei, hatte das Schöffengericht die Sitzung in den geräumigen alten Schwurgerichtssaal verlegt. Der Saal war brechend voll. Sprechchöre überall. Auf den Gängen im Gerichtsgebäude wimmelte es von lärmenden Demonstranten. Ich stellte mich zu einer kurzen Diskussion mit dem Wortführer der ungefähr 200 protestierenden und radaumachenden Studenten, Karl Dietrich Wolff. Dieser warf der Justiz autoritären Charakter vor. Ich verteidigte die Rechtsprechung und versuchte, Wolff klarzumachen, dass die Justiz kein Büttel der Staatsgewalt sei, sondern dass sie der Exekutive im System der Gewaltenteilung als „Antiautorität“ gegenüberstehe, gleichsam als schiedsrichterliche Macht, die auch das Verhalten des Staates kontrolliere.

Eine Fortsetzung der Diskussion bot ich den Demonstranten außerhalb des Gerichts an. Damit gelang es, die Menge aus dem Gericht herauszubekommen. Sie verlief sich dann. Die Frankfurter Presse berichtete über diesen Vorgang auf den Titelseiten in großer Aufmachung. Die Bilder in der Presse erregten geradezu ungeheures Aufsehen. Damit ich mich vernehmbar machen konnte, hatte mir Wolff einen Trichter („Flüstertüte“) vorgehalten“ ...

 

„Ein echter Höhepunkt in der Flut dieser politisch akzentuierten Verhandlungen war der Prozess wegen des Kaufhausbrandes auf der Zeil Anfang April 1968, der am 14. Oktober 1968 unter dem Vorsitz des erfahrenen Landgerichtsdirektors Gerhard Zoebe begann. Trotz der überlegten Bemühungen des Vorsitzenden um Sachlichkeit machten die Angeklagten – es handelte sich um Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein – und ihre im Saal anwesenden Sympathisanten die Verhandlung zum Happening. Unaufhörlich provozierten sie das Gericht und versuchten, es lächerlich zu machen. Dazu hatte der nervenstarke Vorsitzende ungewollte Hilfestellung geleistet, weil er zu Beginn der Verhandlung bekannt gegeben hatte, was das Gericht zu tolerieren gedächte und wann es einschreiten würde. Die Angeklagten wollten natürlich ausloten, wie weit sie gehen konnten; sie reizten die Richter und setzten alles daran, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten.

 

Verteidiger waren unter anderen die Rechtsanwälte Mahler und Schily. Mahler war ein Fanatiker und Doktrinär. Ich kannte ihn aus Berlin, wo er auf dem Kurfürstendamm gegen die USA demonstriert und sich geprügelt hatte. Otto Schily, der es später, 1998, bis zum Bundesinnenminister brachte, war der Liebling der Presse, wozu sein gewandtes, ihn als Intellektuellen ausweisendes Auftreten viel beitrug. Die Anwälte taten nichts, um dem Provokationstheater Einhalt zu gebieten“ ...

 

„Angekündigt war, dass die Verteidigung die politischen Hintergründe des Prozesses beleuchten würde. Das Vorhaben wurde so umgesetzt, dass seitenlang aus politischen Schriften vorgelesen wurde, die mit dem Verfahrensgegenstand nichts zu tun hatten. Am 13. Oktober 1968 wurde das Urteil im Kaufhausbrandstifterprozess verkündet: drei Jahre Zuchthaus für jeden der vier Angeklagten. Rhythmisches Händeklatschen und das Absingen der Internationale begrüßten die Angeklagten, die zum Teil mit brennenden Zigarren im Mund erschienen. Tumulte und andere Zwischenfälle begleiteten die Urteilsverkündung. Als der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Zoebe, ausführte, das Verfahren sei nicht zu den Studentenprozessen zu zählen, weil es keinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass „studentische Organisationen oder die APO“ an der Brandstiftung beteiligt gewesen seien, protestierten die Angeklagten und machten Anstalten, den Saal zu verlassen. Cohn-Bendit, der aus Paris den Anspruch, ein führender Revolutionär zu sein, mitgebracht hatte, rief in den Saal „Sie gehören zu uns“. Darauf wies der Vorsitzende den „Unruhestifter Cohn-Bendit“ aus dem Gerichtssaal. Baader und Söhnlein sprangen von der Anklagebank in den Saal. Der Vorsitzende ordnete an, den Saal zu räumen, die Polizei rückte an, unter den Zuhörern brach Panik aus. Qualm breitete sich aus, die Beleuchtung im Treppenhaus erlosch. Nach einer Stunde brachten Justizwachtmeister schließlich Baader und Söhnlein wieder in ihre Gewalt, die Verhandlung, zu der die Öffentlichkeit wieder zugelassen wurde, konnte ihren Fortgang nehmen“...

 

„Je mehr die Kampagne fortschritt, um so mehr wuchs die Tendenz zur Gewaltsamkeit. Wenn Richterkollegen mir anzeigten, dass ihre Frauen und Kinder Drohbriefe erhielten, merkten wir, wie hilflos wir waren. Molotow-cocktails wurden auf das Landgericht geschleudert, verfehlten aber mein Arbeitszimmer und richteten erfreulicherweise nur Sach-, aber keinen Personenschaden an“...

 

„In den letzten Januar- und den ersten Februartagen 1969 wurde Frankfurt dann auch wieder zu einem wahren Hexenkessel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zog die folgende Bilanz über die Krawallwoche: „1. Attacken auf Konzertbesucher; 2. Steine auf Erhards Auto; 3. Steine gegen US-Generalkonsulat; 4. Steine auf Amerika-Haus; 5. Scherben im spanischen Konsulat; 6. Steine gegen das Polizeipräsidium; 7. Angriff auf spanische Bank; 8. Überfall auf Deutsche Bank; 9. Steinwürfe gegen die Börse; 10. Einbruch bei Deutscher Bank-Filiale; 11. Scherben im Amt für Staatsangehörigkeitsfragen; 12. Belagerung des ‚Frankfurter Hofes’; 13. Ausschreitungen im Club Voltaire; 14. Angriffe auf zivile Autos; 15. Hausfriedensbruch im Hochschulinstitut; 16. Einbruch im Dekanat; 17. Überfall auf ‚Iberia’; 18. Steine gegen spanisches Verkehrsbüro; 19. Hausfriedensbruch im ‚Kranzler’.“ Der in der Aufzählung genannte „Hausfriedensbruch im Hochschulinstitut“ betraf das Institut für Sozialforschung.

Von den Studenten wurde es als ungeheuerlich empfunden, dass die Institutsdirektoren Theodor W. Adorno, in dem sie ihr Idol sahen, und Ludwig von Friedeburg ihnen am 31. Januar den Zutritt verwehrten und die Polizei riefen, nachdem die rund 80 Studenten, die dort ihre „Strategiediskussion“ abhalten wollten, in das Gebäude eingedrungen waren.

Die festgenommenen Studenten wurden ins Polizeipräsidium gebracht, aber sämtlich bis auf Hans-Jürgen Krahl auf freien Fuß gesetzt. Krahl wurde als Rädelsführer in Untersuchungshaft genommen, was gewalttätige Demonstrationen auslöste, in denen unter Androhung von „Gegenschlägen“ die Freilassung Krahls gefordert wurde.

Als am 5. Februar 1969 das Schöffengericht im Schnellverfahren gegen Adornos „exzellenten Doktoranden“ wegen Hausfriedensbruch und Nötigung verhandelte, zwangen der Gesang der Internationale, die Rufe von Zuhörern, den Staatsanwalt Uchmann einzusperren, und das rhythmische Klatschen den Gerichtsvorsitzenden, den Saal räumen zu lassen. Das Schnellverfahren platzte, weil Krahls Verteidiger, Rechtsanwalt Riemann, 50 Zeugen benannte, die zu den Anschuldigungen gehört werden sollen. Tags darauf wurde Krahl unter der Auflage, sich einen festen Wohnsitz zu suchen, aus der Haft entlassen.

 

In den folgenden Wochen und Monaten wurden Adorno und Friedeburg enormem Druck ausgesetzt, den Strafantrag gegen Krahl zurückzunehmen. Beide blieben standhaft, und Adorno, dem auch durch Vorlesungsstörungen übel mitgespielt wurde, schrieb seinem kalifornischen Kollegen Herbert Marcuse, der ebenfalls als theoretischer Lehrmeister der APO galt, Krahl habe die Aktion nur organisiert, um in Untersuchungshaft zu kommen und dadurch die zerfallende Frankfurter Gruppe des SDS zusammenzuhalten. Nicht die Institutsdirektoren, sondern die Studenten hätten repressive Maßnahmen ergriffen und ihnen zugerufen, sie sollten die Klappe halten. Charakteristisch für die Situation war, dass Bundesverkehrsminister Georg Leber auf dem Bezirksparteitag der nordhessischen SPD fragte: „Wissen die Professoren, die jahrelang eine radikale Saat gesät haben, was sie damit angerichtet haben?“

 

So wurde die Hauptverhandlung gegen Krahl, die am 18. Juli 1969 vor dem Schöffengericht begann, zu einem der bedeutsamsten Ereignisse dieser Periode. Wie Friedeburg, so wurde auch Adorno, das Haupt der Frankfurter Schule, vernommen. Anschließend nahm sich Krahl mit seinem rhetorischen Talent seinen Mentor und Doktorvater vor, bis der hilflos wirkende (indirekte) Wegbereiter des studentischen Protestes mehrfach erklärte, er könne wegen seines bevorstehenden Urlaubs keine Aussagen mehr vor Gericht machen.

Das Schöffengericht unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrats Wolfgang Schwalbe verurteilte Krahl am 25. Juli 1969 wegen Hausfriedensbruchs zu drei Monaten und 300 DM Geldstrafe, wobei ihm idealistische Überzeugungen zugebilligt wurden. Adorno war nach seiner Vernehmung in die Schweiz abgereist, wo er, tief verwundet und verbittert, am 6. August verstarb. Einige Tage zuvor schrieb er an Herbert Marcuse: „Von dem Maß an Hass, das sich auf Friedeburg, Habermas und mich konzentriert, machst du Dir offenbar keine Vorstellung“... .

 

Soviel zu Frankfurt Anno 1968/1969 – aber es bleibt überaus lohnend, auch noch die hier nicht abgedruckten teils längeren Zwischentexte und den Rest zu lesen !

 

III.

 

Auch am Amts- und Landgericht Hamburg ließ sich damals - und auch später noch -einiges erleben. Wolfgang Schneider[10] hatte ein Verfahren zu leiten, gegen das – weil es sich mittelbar zu § 218 StGB (also einer Frauensache) in Verbindung bringen ließ - auf den Zuschauerbänken ein Haufen junger Damen laut und barbusig demonstrierten, wie das Bild hier zeigt: 

(aus urheberrechtlichen Gründen steht das Bild nur in der Papierform)

Revolution muß „Spaß“ machen: Sieben „Oben-ohne“-Studentinnen beim Absingen ihrer „Ballade von den sexuellen Richtern“ im Hamburger Amtsgericht am 12.12.1968, wo sich Ursula Seppel wegen Hausfriedensbruchs zu verantworten hatte.                                                                                 (© dpa)

 

Freilich ließ Schneider sich nicht aus der Ruhe bringen, gab den Wachtmeistern Order, die Damen hinauszutragen, und wartete in Ruhe, bis seine Saalhüter den ungewöhnlichen Auftrag erledigt hatten - dem Vernehmen nach mit belustigtem Behagen. Weniger Humor legte der Verteidiger RA Hannover[11] an den Tag: er erstattete gegen den Vorsitzenden Schneider Strafanzeige wegen Anstiftung zur Unzucht (die wohl im unvermeidlichen und präsumtiv lustvollen Kontakt zwischen Wachtmeisterhänden und (partiell) nackten Frauenkörpern gelegen haben soll). Das wiederum erboste den Amtsgerichtspräsidenten Wienbeck: er stellte nun seinerseits Strafantrag gegen RA Hannover wegen Richterbeleidigung, Verunglimpfung, falscher Verdächtigung oder groben Unfugs (der wirkliche Tatbestand ist mir längst entfallen). Natürlich verlief dann alles im Sande. ...

 

Albrecht Mentz, bis vor kurzem Vorsitzender des 3. Strafsenats, musste als damaliger Amtsrichter am Rande seines Schmiedel-Verfahrens (Apo-Sache) Ernsthafteres einstecken als sein Abteilungsleiter Schneider: ihm wurden Nase und Brille zerbleut, als er als Zuhörer bei einer Wahlveranstaltung Helmut Schmidts auftauchte und dort von seiner Szene entdeckt wurde. ...

 

Der mit Abstand übelste Vorfall dieser Art freilich waren die Schüsse in die Wohnung des VRiLG Geert Ziegler, der damals einer Strafkammer des LG vorsaß, die einen ziemlich hochkarätigen Apo-Prozess führte. Dies stand dann Frankfurter Vorkommnissen durchaus nicht nach. ...

 

Soviel nur, um die – inzwischen älteren - Leserinnen und Leser dieser Zeilen anzuregen, in ihrem Gedächtnis (oder in Dokumenten auf dem Dachboden!) zu kramen, um herauszufinden, ob dort vielleicht noch einschlägige Erinnerungen liegen – solche, die das hier gezeichnete Bild abrunden, ergänzen oder auch: ihm widersprechen. Wie eingangs gesagt: „68“ galt vielen als Hoffnung, Fortschritt, Aufbruch und frische Luft, wie dies zunächst ja auch für Wassermann selbst gegolten, sich dann freilich radikal geändert hatte. Andere könnten es aber anders – vielleicht ungebrochen - erlebt haben und der überwiegend negativen Zeichnung im vorliegenden Artikel widersprechen wollen. Jedenfalls wäre unser Mitteilungsblatt ein ideales Forum, die Kollegenschaft an einem gewiß auch für Jüngere interessanten und für die Justiz insgesamt wichtigen historischen Rekonstruktionsprozess teilhaben zu lassen.

Günter Bertram


 

[1] MHR 1/03, S. 16 lk.

 

[2] MUT: Forum für Kultur, Politik und Geschichte Nr. 432, August 2003 S. 12 - 26

 

[3] wie z.B. Bergmann/Dutschke/Lefevre/Rabehl:

„Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition“, rororo aktuell Nr.1043, Hamburg 1968

 

[4] Einen Spiegel besonderer Art präsentiert der Text-Bildband von Herlinde Koebel: Spuren der Macht, München 1999, der fünfzehn Prominente – von Joschka Fischer bis Gerhard Schröder - über die Jahre 1991 bis 1998 mit Kamera und Notizblock verfolgt. In den biographischen Reflexionen dort kommt dann gelegentlich auch „1968“ vor, bei J.F. z.B. S 20/ 34.

 

[5] um zugleich an einen kürzlich verstorbenen Sozialwissenschaftler zu erinnern:

Erwin K. Scheuch (Hrsg): „Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“, Köln 1968; auch Kurt Sontheimer: Das Elend unserer Intellektuellen, Hamburg 1976;

Hermann Lübbe: Hochschulreform und Gegenaufklärung, Herderbücherei 418, Freiburg 1972

 

[6] Röhl: „Linke Lebenslügen – Eine überfällige Abrechnung“, Berlin 1994

 

[7] In seinen Maischberger-Gesprächen subsumiert Helmut Schmidt die 68er-Bewegung barschen Tons als Neurose, vgl. Hand aufs Herz; München 2002 S. 188 ff.

[8] Hamburg 1984, dort S. 400 ff: Die Studentenrevolte in Universität und Kirche.

 

[9] Oberlercher griff Wenke mit dem Vorwurf an, vormals in den NS-Wissenschaftsbetrieb verstrickt gewesen zu sein. Inzwischen hat sich Oberlercher - ähnlich wie RA Horst Mahler - zu einem der brutalsten neonazistischen Ideologen gemausert und wird mit Recht in den jährlichen Verfassungschutzberichten als ein solcher herausgestellt. Des näheren über seine „linken“ Auftritte Thielicke aaO. insb. auch S. 401 f.

 

[10] zu ihm vgl. MHR 1989 Heft 1 S.12

 

[11] der im literarischen Rahmen von Kultur und Justiz unlängst in der Grundbuchhalle seine persönliche Erinnerung an frühere Zeiten zu Gehör gebracht hat, freilich ohne Erwähnung des o.e. Vorfalls.