(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/03, 31) < home RiV >

Schlanker Staat

– schlanke Justiz?

 

Gedanken zur Zusammenlegung

von Gerichtszweigen.

 
Gelegentlich fällt die Bemerkung, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Rechtswege– oder –mittelstaat (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Die allgemeine Eröffnung des Rechtsweges, jedenfalls gegen den Staat (Art. 19 Abs. 4 GG), wird zudem häufig mit einer Verpflichtung zur Klage gleich gesetzt. Daraus resultiert eine im weltweiten Vergleich beachtlich hohe Prozessdichte, verbunden mit einer ungewöhnlich hohen Zahl von Richtern pro Einwohner. Und da in Deutschland, spätestens seit Erfindung des Preußentums, kaum etwas dem Zufall überlassen bleibt, erfreut sich unser Justizwesen einer Ausdifferenzierung, die ebenfalls kaum ihresgleichen hat. Am deutlichsten wird dies bei einer Zusammenschau der zahlreichen möglichen Rechtswege – der Place de L’Étoile in Paris ist dagegen ein sehr übersichtliches Gebilde. Nicht nur die verschieden hohen Bäume der Instanzen, sondern schon zuvor die Zweige der Gerichtsbarkeit verwirren den Blick, allein drei davon im öffentlich-rechtlichen Bereich. Die Sinnhaftigkeit dieser (Zer-) Gliederung wird immer wieder thematisiert. Nach dem Scheitern einer Verwaltungsprozessordnung (VwPO) Mitte der 80er Jahre kommen nun in jüngster Zeit erneut Forderungen nach einer Zusammenlegung von Gerichtszweigen auf[1], so von Staatsminister de Maizière auf dem Richter- und Staatsanwaltstag 2003[2] und ihm folgend von Bundesministerin Zypries[3]. Die Justizministerkonferenz am 6. November hat inzwischen eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis zur nächsten Jumiko Vorschläge zur Errichtung einer einheitlichen öffentlichrechtlichen Fachgerichtsbarkeit erarbeiten soll[4].

Hierzu folgend einige Gedanken und Anmerkungen, allerdings in Beschränkung auf den eigenen Horizont nur zu dem Teil der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit.

Diese teilt sich bekanntlich in die (allgemeinen) Verwaltungsgerichte (VG/OVG/BVerwG) sowie die Sozial- (SG/LSG/BSG) und Finanzgerichte (FG/BFH)[5]. Dabei fällt schon ein grundlegender Unterschied auf, und zwar die Zweistufigkeit in der Finanzgerichtsbarkeit. Diese ist nur historisch zu erklären, hat sich aber allgemein bewährt, eine Eingangs­instanz wird nicht mehr ernsthaft diskutiert. Vielmehr erscheint diese Konstruktion als die (jetzt wieder) modernere Variante, denn bei VG (§§ 124 f. VwGO) und – eingeschränkt – SG (§ 144 SGG) wird die Konzentration auf eine Tatsacheninstanz angestrebt. Es ist auch kaum nachvollziehbar, warum ein komplizierter zollrechtlicher Sachverhalt nur einmal tatsächlich von einem Gericht überprüft werden darf, während dies bei einem Abschleppfall zweimal möglich sein soll[6].

Damit sind wir bei einem der Hauptargumente für die Zusammenlegung, der Effizienz der Justiz. Die „knappe Ressource Recht“[7] darf angesichts enger Haushalte, allgemeiner Sparzwänge und vor der generellen „Modernisierung ... unserer Gesellschaft“[8] nicht vergeudet werden.

Diese Binsenweisheit reicht als Begründung natürlich nicht aus, denn wer verändern will, hat die Beweislast dafür, dass es hinterher besser funktioniert und die propagierten Ziele auf dem angestrebten Weg auch tatsächlich erreicht werden.

Zunächst lässt sich dies für die räumliche Zusammenlegung von Gerichten ohne Weiteres fest stellen. Gemeinsame Hausverwaltung, Annahmestellen, Bibliotheken sparen Geld. Das Hamburger „Haus der Gerichte“ ist hierfür ein gutes Beispiel. Allerdings finden sich dort nur zwei der drei öffentlich-rechtlichen Zweige, VG/OVG und FG. Eine Einbeziehung von SG/LSG wurde von der „alten“ wie der „neuen“ Leitung der Justizbehörde abgelehnt, jeweils aus (unterschiedlichen) Gründen, die außerhalb des hier diskutierten Kontextes lagen. In Schleswig-Holstein z.B. verfügen VG und OVG, die in einem Gebäude untergebracht sind, zudem noch über eine gemeinsame Gerichtsverwaltung.

Eine institutionelle Verschmelzung hätte darüber hinaus noch den Vorteil, dass der Einsatz der Richterinnen und Richter flexibler nach dem Bedarf, dem jeweiligen Geschäftsanfall, gesteuert werden könnte. Bekanntlich dürfen Berufsrichter nach ihrer Lebenszeiternennung nur unter sehr engen Voraussetzungen versetzt werden (§§ 30 ff. DRiG). Ein Wechsel zwischen den Gerichtsbarkeiten ist regelmäßig nur mit Zustimmung möglich, anders als die Betreuung mit anderen Aufgaben im Rahmen der Geschäftsverteilung (§ 21e GVG). Gehen also etwa die Asylverfahren zurück, steigen aber zeitgleich die Streitigkeiten im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung an, kann hierauf zur Zeit nur begrenzt durch Verschiebungen von manpower reagiert werden. Dies wäre einfacher, würden beide Verfahrensgegenstände innerhalb derselben Gerichtsbarkeit verhandelt.

Nun mag dem die fehlende Sachkenntnis entgegen gehalten werden, die Notwendigkeit der Einarbeitung in eine fremde Rechtsmaterie. Dieses Argument ist aber nur begrenzt valide. Vordergründig: Ein(e) deutsche(r) Volljurist(in) kann bekanntlich alles, insbesondere bei der hohen Qualifikation, die ohnehin für die Berufung in ein Richteramt gefordert wird. Weiter: Warum soll der (übliche) Wechsel vom Miet- über das Straf- zum Erb- oder Handelsrecht möglich sein, nicht aber der vom Sielbeitrags- zum Grundsteuer- oder Rentenrecht? Noch weiter: eine Einarbeitung in neues materielles Recht ist angesichts der Aktivitäten der Gesetzgeber auf nationaler und europäischer Ebene ständig erforderlich, mehr als noch vor wenigen Jahren[9]. Und schließlich: Bereits jetzt gibt es erhebliche Überschneidungen in den Rechtsbereichen. Fragen zu Milchquoten etwa werden von Finanz- und Verwaltungsgerichten behandelt, Sozial(hilfe)- und Sozialversicherungsrecht sind im Einzelfall oft kaum abgrenzbar und bedienen sich beide des SGB X als Verwaltungsverfahrensregelung. Zu ergänzen sei noch das Argument, dass gelegentlicher Wechsel im Tätigkeitsfeld und in der Arbeitsumgebung Verkrustungen jeglicher Art, auch solchen auf der Hirnrinde, präventiv entgegen wirkt.

Dieses ausgeräumt, wird auch die Bürgerfreundlichkeit einer Zusammenlegung deutlich, denn die Wahl des Rechtswegs wird erheblich erleichtert. Dies ist besonders bedeutsam, weil in der ersten Instanz kein Anwaltszwang besteht und oft ohne solchen geklagt wird. Aber auch anwaltliche Fehlberatungen können insoweit nicht mehr vorkommen. Und Reibungs- und Zeitverluste reduzieren sich für alle Beteiligten auf ein vertretbares Minimum. Nebenbei könnten auch die Referendarinnen und Referendare in ihrer Station breiter ausgebildet werden. Mehr Bürgernähe könnte sich auch daraus ergeben, dass an Standorten, die bisher nur eine Gerichtsbarkeit bieten, zukünftig mehrere vorhanden wären. Dies gilt besonders für die Flächenländer: Schleswig-Holstein etwa hat vier SGe, aber nur einen VG-Standort. Nicht nur in Bausachen würde sich unmittelbare Ortskenntnis vermutlich positiv bemerkbar machen.

Zu regeln ist natürlich die bisher noch sehr unterschiedliche Struktur. Neben der schon erwähnten Zweistufigkeit FG/BFH gibt es vor allem Differenzen bei der Besetzung der Spruchkörper. Beim SG bestehen diese aus einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern, aus Arbeitnehmer- und geber­lager. Bei VG/FG findet sich die Besetzung 3/2, oder aber, deutlich zunehmend, wenn nicht schon durchweg, der Einzelrichter/entschei­dender Berichterstatter[10] (jeweils § 6 VwGO/ FGO, § 87a VwGO, § 79a FGO) ohne Ehrenamtliche. Die Senate des OVG entscheiden (inzwischen) fast nur noch im Beschlusswege und damit auch nur durch die Berufsrichter. Die Mitwirkung von Ehrenamtlichen steht damit grundsätzlich in Frage, unabhängig von ihrer Sinnhaftigkeit angesichts zunehmend komplexer Rechtsfragen. Bei SG/LSG/BSG ist obendrein die Parität zwischen den Ehrenamtlichen fragwürdig geworden, seit der Gesetzgeber zunehmend die paritätische Finanzierung der Sozialsysteme aufhebt[11]. Insoweit ist eine Angleichung also wohl ohnehin überfällig und dürfte, wie auch immer, nicht allzu problematisch werden. Bei den Zivilgerichten gibt es schließlich ebenfalls Kammern mit und ohne Ehrenamtliche („Handelsrichter“). Die Einführung eines „obligatorischen“ Einzelrichters, mit nur noch ausnahmsweiser Übertragung an eine Kammer, würde zudem die soeben positiv erwähnte räumliche „Streuung“ erleichtern. Und es würden viel weniger Stellen für Vorsitzende Richter benötigt ...

 

Die zweite Tatsacheninstanz könnte dann auch in der Theorie abgeschafft werden. Praktisch hat sie kaum noch Bedeutung, jedenfalls bei VG/OVG, und es besteht nach allgemeiner Meinung auch kein Anspruch auf mehrere gerichtliche Prüfungen (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 EMRK, Art. 47 EU-Grundrechtecharta). Politisch zu entscheiden wäre die Frage, ob ein „Puffer“ zwischen Eingangsinstanz und Bundesgericht gewünscht wird, der möglicherweise eine Filterfunktion erfüllt und Arbeitsbelastung abfängt. In Ländern mit mehreren erstinstanzlichen Gerichten kommt zumindest dem OVG auch noch die Aufgabe zu, das Landesrecht einheitlich auszulegen; im Sozialversicherungsrecht spielt dies praktisch keine Rolle.

 

Auch der Einwand, der gesetzliche Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) könne nicht mehr präzise bestimmt werden, verfängt nicht. Die Zuweisung an einen Gerichtszweig wäre vielmehr eindeutiger möglich. Die zusätzlichen Maßnahmen der Geschäftsverteilung dürften ein routiniertes Präsidium auch keinesfalls überfordern. Allenfalls tun sich insoweit noch Aufgaben für Präsidialrichter oder Gerichtsmanager auf, was keinesfalls ein Nachteil sein muss. Bei großen Landgerichten funktioniert so etwas ja auch (meistens). Und Angst vor Herausforderungen durch neue Aufgaben ist kein zu akzeptierendes Argument.

 

Die notwendigen Angleichungen im Verfahrensrecht von VwGO/SGG/FGO stellen heute – anders als noch vor zwanzig Jahren – kaum noch eine ernsthafte Herausforderung dar, sie sind oft schon in den verschiedenen „Reform“-Gesetzen erfolgt, mal mehr, mal weniger explizit.

 

Im zusammen wachsenden Europa kommt auch dem Rechtsschutz auf der Ebene der nationalen Gerichte eine immer stärkere Bedeutung zu. Dies schlägt sich nieder in Art. 28 Abs. 1 S. 2 des Entwurfs des Vertrages über eine Verfassung für Europa[12], wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz auf dem Gebiet des Unionsrechts gewährleistet ist. Dies setzt zwar keine europaweite Harmonisierung der Rechtsschutz- und Gerichtssysteme voraus, eine solche Kompetenz hat die EU nicht. Dennoch sollten die Mitgliedstaaten sich bemühen, langfristig hier eine Annäherung zu erreichen, damit im „Gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“[13] vergleichbare Standards und Bedingungen herrschen. In der Zwischenzeit dürfen auf der nationalen Ebene Effizienz, Effektivität und Transparenz unbegrenzt verbessert werden.

Es blieben damit, sollen auch die Arbeits- zu den Zivilgerichten geführt werden, zwei Zweige, die ordentliche Gerichtsbarkeit und ...? Das Gegenteil von „ordentlich“ kann „unordentlich“ sein – hiergegen muss sich auch der öffentlich-rechtlich tätige Anwalt verwahren. Oder es wäre „außerordentlich“ – solche Gerichte sind aber nach Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG (Ausnahmegerichte) verboten. Vielleicht kann dann bei dieser Gelegenheit auch einmal die Terminologie so angepasst werden, dass die Gleichrang- und –wertigkeit aller Zweige unseres Gerichtssystems sich schon in der Wortwahl des Gesetzgebers wiederfindet.

 

RA Hans Arno Petzold, Hamburg


 

[1] S. schon Verf. in MHR 4/1999, S. 28.

[2] Die Rede ist auf der Internet-Seite des DRB (www.drb.de) nachzulesen; vgl. auch NJW-aktuell, Heft 40/2003, S. XII.

[3] Pressemeldung Nr. 77/03 v. 24. September 2003, http://www.bmj.bund.de; vgl. auch NJW-aktuell, Heft 42/2003, S. XII und Heft 44/2003, S. XII.

[4] http://www.jura.uni-sb.de/JuMiKo/jumiko_nov03/TOP-C.II.3.htm,

http://www.justiz.nrw.de/JM/justizpolitik/jumiko/herbstkonferenz03/c_verschiedenes/C_II_3.html,

s. dazu auch das Presse-Echo auf der Seite www.richterverein.de.

[5] Vgl. auch Art. 95 Abs. 1 GG, der natürlich anzupassen wäre.

[6] Zu ähnlichen Diskussionen im Strafprozessrecht vgl. zuletzt Röttgen, ZRP 2003, 345, 347.

[7] Zypries, Fn. 2.

[8] A.a.O.

[9] Vgl. dazu auch die Veranstaltungsberichte „Europarecht in der Praxis“ in MHR.

[10] Vgl. dazu NJW-aktuell, Heft 43/2003, S. X und Presseinformation 124/2003 des Hess. JM vom 26.09.2003, http://www.justiz.hessen.de - Presse.

[11] Was außerdem die paritätische Selbstverwaltung in deren Organen immer fragwürdiger werden lässt.

[12] http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/ cv00850.de03.pdf.

[13] http://europa.eu.int/comm/dgs/justice_home/ index_en.htm.