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„Fremde“ als Opfer der Volksverhetzung

 

1. Die Geschichte einer Rechtsnorm

Sieben Jahre lang hatte der § 130 des deutschen StGB nur als tote „Hausnummer“ vor sich hin gedümpelt – überschrieben mit „Anreizung zum Klassenkampf“[1], einer späten Erinnerung an Bismarcks Sozialistengesetze. 1960 aber fühlte sich der Gesetzgeber genötigt, diesen alten Schlauch mit neuem Wein zu füllen, wodurch die Norm nach Inhalt und Richtung grundlegend verändert wurde, nunmehr den Namen „Volksverhetzung bekam und wie folgt lautete:

 „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er

1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,

2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder

3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“[2]

Das Gesetz sollte judenfeindlicher Agitation und entsprechenden Schmierkampagnen einen Riegel vorschieben[3]. Ob es für die neue Regelung solide Gründe gegeben hatte, ist schwer zu entscheiden: Der Hamburger „Fall Nieland“ (Agitationsschrift eines allenfalls beschränkt zurechnungsfähigen Holzkaufmanns),[4] der landauf, landab als skandalös traktiert wurde, war substanziell zu dürftig, um allgemeine Konsequenzen zu rechtfertigen[5]. Ernsthafter waren Grabschändungen und Schmierereien, die 1959 aufgekommen waren und die Öffentlichkeit beunruhigten, von denen man heute allerdings weiß, dass östliche Geheimdienste dabei ihre rührigen Hände mit im Spiel gehabt hatten[6]. Der Gesetzgeber stand jedenfalls unter politischem Handlungsdruck. Die neue Bestimmung war sicherlich verfassungskonform (Maßstab: Art. 5 Abs. 2; 103 Abs. 2 GG) und reichte dann auch aus, antisemitischer Agitation strafrechtlich verschärft[7] zu begegnen[8].

Gleichwohl wurde weiter und immer heftiger darüber gestritten, ob der deutsche Gesetzgeber nicht noch energischer gegen Antisemitismus einschreiten müsse: Inzwischen gab es die NPD - mit überraschenden Erfolgen zumal in den neuen Bundesländern - die sich auch darauf verlegt hatte, den Massenmord an den Juden herunterzuspielen oder zu bestreiten („Auschwitzlüge“). Außerdem nahte mit dem 08.05.1995 der 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation, der „sichtbare Zeichen“ und „- Signale“ zu verlangen schien. Den Ausschlag mag letztlich ein Missverständnis gegeben haben: Der Bundesgerichtshof hatte ein Urteil gegen den NPD-Funktionär Günter Deckert, das wegen Volksverhetzung und anderer Delikte ergangen war, aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil die zu § 130 StGB getroffenen Feststellungen zu dürftig waren. Das wurde von den Medien dann als „Freispruch für die Auschwitzlüge!“ skandalisiert, wogegen mit keinen Presseerklärungen und Erläuterungen der wirklichen Sach- und Rechtslage anzukommen war[9]. Der Gesetzgeber trug den auf ihm lastenden Erwartungen Rechnung, indem er dem § 130 StGB am 28.10.1994[10] folgenden Abs. 3 anfügte:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220 a Abs. 1 (später geändert durch Bezugnahme auf § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost“.

Die Einwendungen, die aus verfassungsrechtlichen (Art. 5, 103 Abs. 2 GG), strafrechtsdogmatischen (Rechtsgut?) und rechtspolitischen Gründen sich aufdrängen, und die oft geltend gemacht worden sind[11], haben erstaunlicherweise niemals zur Verfassungsbeschwerde oder einer Vorlage an das BVerfG geführt.

Anders kam es nach der weiteren Verschärfung des § 130 StGB durch die Novelle vom 01.04.2004, die ihm folgenden Abs. 4 anfügte:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt - und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“.

Gegen sie erhob der Hamburger Rechtsanwalt Rieger, dessen Gedenk-Demonstrationen zum Grab von Rudolf Hess in Wunsiedel nunmehr gesetzwidrig geworden waren und verboten wurden, Verfassungsbeschwerde. Der Karlsruher Senat schob eine Sachentscheidung jahrelang vor sich hin und fällte seinen Spruch erst im November 2009 kurz nach dem Tode des Beschwerdeführers[12]: Die angegriffene Norm verstoße zwar gegen den Text der Verfassung (Art. 5 Abs. 2 GG), aber nicht gegen ihren Geist (sog. „Verfassungsimmanenz“)[13] und sei deshalb ein ausnahmsweise zulässiges, wenngleich die Meinungsfreiheit beschränkendes Sondergesetz. Damit ist das Gericht in der juristischen Literatur (weniger in den Tagesmedien) auf fast einhellige Ablehnung gestoßen[14].

Die große Frage lautete, welchen Kurs der Senat künftig steuern wolle: Denn sein November-Beschluss trug einen Januskopf: Der Lizenz für den Gesetzgeber, die Meinungsfreiheit in bestimmter Hinsicht durch Sondergesetz einzuschränken, stand ein textlich längeres, fast hymnisches Preislied auf die Geistesfreiheit gegenüber[15], dessen Widerspruch zur just verfügten Einschränkung der Meinungsfreiheit ein Rätsel blieb, dessen Auflösung sich der Senat offenbar selbst vorbehalten wollte.

 

Angesichts solcher Ambivalenzen verdient die jüngste nochmalige Erweiterung des § 130 StGB durch Gesetz vom 22.03.2011 erhöhtes Interesse. Deutschland hatte sich schon lange und im Jahre 2007 besonders durch die damals amtierende Justizministerin Brigitte Zypries dafür eingesetzt, eine „europäische Erinnerungskultur“ im Sinne des § 130 Abs. 3 StGB allgemein verbindlich zu machen. Dagegen hatten renommierte Wissenschaftler – Historiker zumal – vieler Länder im „Appell von Blois“ im Namen ihrer Zunft grundsätzlichen Protest erhoben. Osteuropäische Staaten, deren Wunden unter der Knute Stalins noch längst nicht vernarbt waren, wollten dessen Verbrechen gesetzlich ebenso behandelt wissen wie die Hitler’schen[16]. „Erinnerungsgesetze“ unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Art hatten in Europa – und auch anderswo – Konjunktur.

In diesem Klima brachte die EU am 28.11. 2008 den „Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (RB) zustande[17]. Er beschwört die längst ritualisierte Trias von „Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“, zeigt dann aber doch eine deutliche Zurückhaltung gegenüber dem Berliner Bestreben, alles über den deutschen Kamm zu scheren:

„Da die kulturellen und rechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten zum Teil recht unterschiedlich sind, ist insbesondere auf diesem Gebiet derzeit keine vollständige Harmonierung der strafrechtlichen Vorschriften zu erreichen“[18].

Unser § 130 Abs. 3 StGB wird also keineswegs als Muster empfohlen, sondern einerseits der Kreis verpönter Geschichtsverbrechen deutlich erweitert (unter Einschluss der Stalin’schen), andererseits der subjektive Tatbestand letztlich auf gefährliche Hetze („hate-crimes“) beschränkt, so dass ein schlichtes Bestreiten (Leugnen“ usw.) weit außerhalb des europäisch verbindlichen Rahmens liegt[19]. Der deutsche Gesetzgeber stellt dann auch befriedigt fest, er habe schon viel mehr getan als von Brüssel verfügt, so dass es hier für ihn keinen „Änderungsbedarf“ gäbe[20].

Hätte die so deutlich betonte europäische Zurückhaltung für Berlin aber nicht ein Anlass sein können, „die im Rahmenbeschluss vorgesehene, kriminalpolitisch sinnvolle Möglichkeit zur Begrenzung der Strafbarkeit zu nutzen[21], also § 130 Abs. 3 StGB wieder zu streichen? Aber dergleichen übersteigt, wie die Geschichte ständiger Normverschärfungen zeigt, den Horizont unseres Gesetzgebers.

Die Änderung hingegen, zu der er sich genötigt sah, liegt in der Erweiterung des eingangs zitierten Abs. 1 des § 130, der jetzt wie folgt lautet:

„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,

1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen Einzelne wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt oder Willkürmaßnahmen auffordert, oder

2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“.[22]

2. Neue Blickrichtung

Das Interesse hat sich also, nachdem die eigentlichen „Nazi-Themen“ in den Absätzen 3 und 4 erschöpfend traktiert worden waren, wieder dem über 35 Jahre (1960-1994) lang im Wesentlichen unverändert gebliebenen Abs. 1 des § 130 StGB zugewandt und sich ihm auch deshalb zuwenden müssen, weil der Brüsseler Rahmenbeschluss den Berliner Gesetzgeber verpflichtet hatte, dort (wie oben aus dem Text ersichtlich) einige Elemente des europäischen Antidiskriminierungskatalogs[23] einzuarbeiten.

Das trifft mit einer Bedeutungssteigerung zusammen, die bei uns diesem allgemeinen Agitationsverbot aus anderen Gründen zugewachsen war: Das Dritte Reich liegt inzwischen so weit zurück, dass der Versuch, aus dieser fernen Vergangenheit all’ das herzuleiten, was heutzutage als „inkorrekt“, „populistisch“, „menschenverachtend“, „fremdenfeindlich“ oder „rechtslastig“ gilt, kaum noch jemanden überzeugt. Das OVG Münster hatte das allerdings mit der Beschwörung eines von der Verfassung verpönten „menschenverachtenden Gedankenguts“ immer wieder unternommen, sich damit aber eine Karlsruher Abfuhr nach der anderen geholt[24].

Trotzdem liegt auch der oben zitierte erste Absatz des § 130 StGB psychologisch noch im Schatten seines Ursprungs von 1960: dem deutschen Selbstzweifel, ob man als Gesellschaft aus der NS-Zeit denn alle nötigen Lehren gezogen habe. Nachdem aber schließlich das Ursprungsmotiv „Antisemitismus“ verblasst ist, sind dann andere - nicht zuletzt Ausländer, Migranten, kulturell oder religiös Fremde - in den primären Schutzbereich eingerückt.

„Fremdenfeindlich sind Delikte, die gegen Personen begangen werden, denen der Täter (aus intoleranter Haltung heraus) auf Grund ihrer Nationalität, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder auf Grund ihres äußeren Erscheinungsbildes ein Bleibe- und Aufenthaltsrecht in seiner Wohnumgebung oder in Deutschland bestreitet“,

wird „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ nun definiert[25]. § 130 StGB, so heißt es, sei für Ausländerbelange die wichtigste strafrechtliche Schutznorm geworden[26]. Von der formelhaften Trias „Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“[27] kehren im Text des Rahmenbeschlusses nur das erste und dritte Element wieder. Da jetzt nicht mehr nur bestimmte Gruppen „fremder“ Menschen geschützt werden, sondern auch jeder einzelne, der dazu gehört, drängt sich nun erst recht die Frage auf, wer denn eigentlich „der Fremde“ ist, dem der Schutz vor Volksverhetzung zuteil werden soll.

 

3. Der Fremde

Dies ist keine begrifflich-theoretische, sondern eine sehr praktische Frage: Dass die Staatsangehörigkeit hier nichts entscheidet, liegt auf der Hand und wird durch den Sprachgebrauch unterstrichen, der den soziologischen „Migrationshintergrund“ längst an die Stelle der staatsrechtlichen Kategorie gerückt hat. Konflikte, die unterschiedliche Migrantengruppen bei uns untereinander austragen - etwa Kurden mit Türken, Albaner mit Serben – fallen oft gerade deshalb erbittert, blutig und erbarmungslos aus, weil diese sich wechselseitig als „Fremde“ betrachten und hassen, als eine feindliche, bekämpfenswerte, völlig „andere“ (gesetzesterminologisch: „nationale, rassische, religiöse oder ethnische) Gruppe. Polizei und Justiz können ein Lied davon singen. Die hier (s. Fn. 25) zitierte polizeiliche Definition der Fremdenfeindlichkeit geht an dieser Lebenswirklichkeit völlig vorbei, weil sie den weiten, sozialpsychologischen Oberbegriff des „Fremden“ mit dem engen und speziellen des „Ausländers“ gleichsetzt.

Sind Deutsche ohne Migrationshintergrund (die man gelegentlich als „autochthone Deutsche“ bezeichnet) nun auch eine geschützte „Gruppe“ des § 130 Abs. 1 StGB n.F.? Eine wichtige Frage, weil es inzwischen in einigen Städten „Quartiere“ gibt, in denen die sog. Mehrheitsgesellschaft nur noch eine Minderheit ausmacht. Umgekehrte Diskriminierungen“ gegenüber der mehr oder minder verschüchterten deutschen Restbevölkerung sind dort längst keine Seltenheit mehr. Auch nicht Schulklassen, in denen die wenigen deutschen Schüler sich der herrschenden Mehrheit bis zur Unterwerfung anpassen oder das Weite suchen müssen[28]. Dass das alte Klischee vom deutschen Täter und ausländischen Opfer nicht stimmt, ist längst erwiesen und wird sogar von den Medien dem Publikum gelegentlich - mit gebührender Vorsicht! - mitgeteilt[29]; die kriminalstatistischen Befunde sind eindeutig[30].

 

Zur rechtlichen Analyse:

Der Text des § 130 Abs. 1 StGB ergibt zunächst, dass Migranten auch als Einzelpersonen, die von anderen, ihnen fremden Migranten oder von Deutschen zum Hassobjekt nach Ziff. 1 gemacht oder nach Ziff. 2 entwürdigt werden, weil sie z.B. Türken sind (also nicht aus rein persönlicher Antipathie), unter dem Schutz unseres Spezialgesetzesstehen. Wie aber ist der in bestimmten Regionen oder Quartieren (und dort z.B. an Schulen oder in Verkehrsmitteln) häufige - gerade umgekehrte - Fall zu beurteilen, dass deutsche Mitschüler, Lehrerinnen oder Verkehrsteilnehmer bedroht (Ziffer 1) oder entwürdigt (Ziffer 2) werden, und zwar deshalb, weil sie Deutsche sind[31]? Der Text ergibt, dass ein deutsches Opfer von ihm durchaus erfasst und geschützt wird, sogar in zweifacher Hinsicht: als Teil einer national bestimmten Gruppe (der der Deutschen) wie auch als „Teil der Bevölkerung“. Diese Subsumtion ist so zwingend, dass man fragen könnte, warum dergleichen überhaupt gesagt werden muss; die einschlägige BT-Drucksache 17/3124 verwendet auf eine derartige Erwägung schließlich keinen einzigen Satz.

Aber Vorsicht! Was einfach scheint, wäre, wenn es damit zum Schwure und zum entsprechenden Urteil käme, jedenfalls eine Neuigkeit. Denn der Schutz „der Mehrheitsgesellschaft“ - des eigenen Volkes - steht bei uns und beim deutschen Gesetzgeber nicht eben hoch im Kurs; das selbstkritische Bestreben hingegen, Fremde vor uns selbst zu schützen, gilt („eingedenk unserer Geschichte usw. …“) als moralisch viel kreditwürdiger. Aber Gesetz ist Gesetz, und was darin geschrieben steht, steht dort geschrieben! Der einzige Weg, dem an sich eindeutigen Text im Konfliktfall dennoch auszuweichen, wäre ziemlich abenteuerlich und könnte wohl nur in der - an den Haaren herbei zu zerrenden - Behauptung liegen, dergleichen sei nicht geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören (vgl. die Prämisse der Ziffern 1 und 2)[32] – was freilich reiner Zynismus wäre[33].

 

4. Praxis

Sollte die Justiz das neue Gesetz künftig korrekt gegen jedermann anwenden, also auch, um Deutsche vor Migranten zu schützen, so dürfte hier die Wirkung dennoch aus praktischen Gründen recht begrenzt bleiben. Wer bemüht schon den Kadi, wenn er Rache fürchtet? Immerhin aber wiegt der § 130 StGB schwerer als die bisher einschlägigen Beleidigungstatbestände; und weil er ein Offizialdelikt ist, wird dem Opfer die Last der Anzeige (§ 194 StGB) abgenommen und dem Staat die Aufgabe der Strafverfolgung zugeschoben. Wichtiger wäre aber das Signal, das dann in der ideologischen Normalisierung der alten „Volksverhetzung“ läge: als Ende ständiger Ausweitung und Verschärfung zwecks „Vergangenheitsbewältigung“ und zugleich als Absage an die Zwangsvorstellung, dass für Deutsche im Verhältnis zum Fremden natürlicher- und vermutungsweise allein die Täterrolle in Betracht kommt. So könnte die hoffentlich letzte Novellierung des § 130 StGB sogar noch zum Guten ausschlagen[34].

 

Günter Bertram


[1] Gesetz vom 25.08.1953 (BGBl. 1953 I 1083): „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten öffentlich aufreizt, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft“.

[2] Gesetz vom 30.05.1960 (BGBl. 1960 I 478)

[3] vgl. MHR 2/2005, 24: „Panischer Schnellschuss: Die Volksverhetzungsnovelle 2005“, dort Ziff. III „Vorgeschichte“

[4] vgl. dazu LG Hamburg JZ 1959, 176 ff; GenStA Hamburg JZ 1959, 176; BGH NJW 1959, 1593, JZ 1959, 414 ff.

[5] vgl. dazu die Dissertation von Joachim Jahn (heute FAZ-Wirtschaftskorrespondent): Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, Frankfurt 1998, dort S. 37 ff, 130 ff: Besprechung Bertram, NJW 1999, 3544

[6] vgl. dazu Michael Wolffsohn: „Die Deutschlandakte-Tatsachen und Legenden, 2. Aufl. 1996, Kpt. I,, S. 20 – 23 mit Fn. 9 – 22 (S. 112); ders.: Keine Angst vor Deutschland!, Bonn 1990, S. 120; Jahn (Fn. 5), S. 39

[7] Auch für dergleichen galten natürlich die allgemeinen Gesetze, zumal die Beleidigungstatbestände. Um den NS-Opfern nicht zuzumuten, gegebenenfalls selbst Strafanträge zu stellen, strich der Gesetzgeber später (1985) insoweit das Antragserfordernis (§ 194 StGB), so dass dann das Offizialprinzip hier ebenso galt wie bei der Volksverhetzung.

[8] Ich war Berichterstatter einer Strafkammer, die bald nach 1966 einen Fall aus dem Hamburger Bürgerschaftswahlkampfes zu verhandeln hatte: Der nach § 130 StGB Angeklagte hatte Wahlplakate der SPD für ihren Kandidaten Bürgermeister Prof. Dr. Herbert Weichmann so überklebt, dass sie lauteten: „Hamburg wählt seinen Juden“ oder „Hamburg wählt seinen Juden Weichmann“. Das Gericht verurteilte ihn antragsgemäß, der BGH beließ es dabei (BGHSt 21, 371 = NJW 1968, 309). 30 Jahre später fand unter meinem Vorsitz ein Strafverfahren gegen Garry Rex Lauck statt, der bald nach der Wiedervereinigung seinen „NS-Kampfruf“ – ein antisemitisches Hetzblatt, das sich mit Vorliebe über die „jüdische Vergasungslüge“ ausließ, Hitlers Taten pries und für seinen Nachruhm die Trommel rührte – vom Ausland aus massenhaft in die neuen Bundesländer hineingepumpt hatte. Der Prozess endete am 22.08.1996 mit seiner Verurteilung u.a. nach § 130 StGB (der Tatzeit wegen) alter Fassung.

[9] vgl. MHR 2/1994, 8 ff: „Umstritten? Der BGH, das BVerfG und die „Auschwitzlüge“; Bertram: „Entrüstungsstürme im Medienzeitalter – der BGH und die ‚Auschwitzlüge‘“, NJW 1994, 2002

[10] BGBl. I 3186. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der eingangs zitierte Abs. 1 dahin verändert, dass das Merkmal der Menschenwürde-Verletzung nur noch der Ziffer 3 (Beschimpfung usw.) zugeordnet blieb.

[11] MHR 2/2005, 24: Panischer Schnellschuss: Die Volksverhetzungsnovelle 2005 – dort insb. Fn.15; vgl. auch Jahn (Fn. 5). S. 163 ff; Literaturnachweise bei Bertram: „Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungs-Novelle“, NJW 2004, 347, Fn. 13)

[12] vgl. MHR 1/2010, 30: „Von der Novelle des § 130 (4) i. J. 2005 zum Beschluss des BVerfG v. 04.11.2009 – und darüber hinaus“

[13] Abdruck z.B. in NJW 2010, 47, dort Rz. 64 – 66

[14] Nachweise in MHR 4/2010, 12, Fn. 17

[15] etwa bei Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777; auch MHR 1/2007, 22, jeweils mit Nachweisen

[16] vgl. dazu im einzelnen MHR 4/2008, 12: „Wider die ‚Erinnerungspolizei’ – Der Appell von Blois“

[17] Amtsblatt der EU I. 328/55 v. 06.12.2008. Die Rechtsgrundlage auch dieses Rahmenbeschlusses bleibt, wie auch sonst oft, ziemlich dunkel. Das BVerfG jedenfalls erkennt eine Brüsseler Kompetenz für derart allgemeines Strafrecht nicht an, vgl. Lissabonurteil vom 30.06.2009 (2 BvE 2/09), Rz. 249 ff (insb. 252, 253).

[18]  Erwägungsgrund (6); allerdings waren die „europäischen Vorgaben“ zunächst vom deutschen § 130 StGB „inspiriert“ worden, vgl. Stefanie Bock: „Die (unterlassene) Reform des Volksverhetzungstatbestands“, ZRP 2/2011, 46

[19] vgl. näher dazu: Rahmenbeschluss (Fn.17), Art. 1 (1) c, d, (2), (4) und Art. 7

[20] vgl. BT-Drucks. 17/3124, Begründung A III. Dass Deutschland sein „Soll“ erfüllt hat, dürfte in der Tat auch für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit (falsch: „Menschlichkeit“) und Kriegsverbrechen i.S.d. EU gelten, weil das StGB schon genügend Strafvorschriften gegen solche „hate-crimes“ aufweist.

[21] Bock (Fn. 18), S. 49

[22] Abs. 2 n.F. vom 22. 03.11 erstreckt dies auf Schriften i.S.d. § 11 Abs. 3 StGB.

[23] zum Antidiskriminierungsgesetz („AGG“) vgl. MHR 3/2006, 25-30

[24] Nachweise MHR 1/2007, 22, Fn. 10;

[25] polizeiliche Definition seit 1992, vgl. Kubnik: Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten, ZRP 2002, 308, Fn. 2).

[26] Antidiskriminierungsmaßnahmen in NRW: Ergebnisse der Evaluation der mit Landesmitteln geförderten Antidiskriminierungsprojekte, Solingen 2001, dort Ziff. 4.1.2.

[27] Erwägung zum EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI v, 28.11.2008 (oben Fn.17).

[28] vgl. etwa Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld, Freiburg, 2010, dort S. 102 ff „Die Situation der Schulen, der Jugendämter und der Polizei“ und passim (dazu MHR 3/2010, 10 – 15; Fn. 25 betr. das Hamburger Neuwiedenthalverfahren). Eindrucksvoll der ARD-Film vom 21. 07.10: „Kampf im Klassenzimmerein Film über eine Schule (in Essen-Karnapp), an der Deutsche nur noch eine Minderheit sind und Lehrer resignieren …“. Das resümiert die FAZ Korrespondentin Regina Mönch, die dieses Thema dort immer wieder aufgreift, am 21.07.1910 „Auf verlorenem Posten“: deutsche Schüler als niedere Kaste … verachtet, unterworfen, von der muslimischen Mehrheit immer wieder entwürdigt, beschimpft als Nazis, Streber, Schlampen (mit Bezug auf Schüler- und Lehrerinnen). Mönch in FAZ v.11.01.2008: „Hinschauen ist nicht gefährlich: Das Wortgefecht um prügelnde junge Migranten ist kein Politiktheater. Es ist notwendig, um die Opfer, aber auch die Täter selbst zu schützen … Sie ( K. Heisig) und viele ihrer Kollegen registrieren nicht nur eine zunehmende Brutalität, sondern auch handfesten Hass auf Deutsche … Was aber heißt es, wenn arabische und türkische Straftäter zu Protokoll geben, sie hätten es diesem „Scheißchristen“ oder diesem „Schweinefleischfresser“ endlich mal zeigen wollen? …“

[29] Über Verrenkungen, zu denen sich sogar Fachleute angesichts der Fakten gelegentlich genötigt fühlen, vgl. MHR 4/2010, S. 7, Ziffer 2 (Christian Pfeiffer in „Cicero“, September 2010, S. 5).

[30] zu Nachweisen vgl. MHR 4/1998, S. 11 (12-15); MHR 2/2009, S. 22 ff (Fn. 2 – 6)

[31] Hier erfreuen sich gewisse Beschimpfungsformeln gegenüber Deutschen längst großer Beliebtheit wie „Nazi“, „Schlampe“, „Schweinefleischfresser“, „Du Opfer!“ usw., vgl. auch oben Fn. 28. Bemerkenswert ähnlich sind Berliner Jugenderfahrungen, die Arye Sharuz Shalicar in seinem Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein toter Jude“, dtv 2011, mitteilt, der inzwischen stellv. Israelischer Armeesprecher geworden ist: Ihm schlugen Hass, Verachtung und Entwürdigung seiner muslimischen Mitschüler und Ganggenossen deshalb entgegen, weil er sich nicht, wie seines Aussehens wegen zunächst vermutet, zum Islam bekannte, sondern den Davidstern trug.

[32] Der „öffentliche Friede“ ist als Tatbestandsmerkmal nichts wert, wie das BVerfG im Beschluss vom 04.11.2009 (NJW 2010, 47 ff (Rdn.76 ff) zutreffend anmerkt. Er ist ein Element purer Beliebigkeit, weil es bei den Medien liegt, ob sie öffentliche Erregung signalisieren oder einen Vorgang verschweigen. So hat z.B. der Fall Sebnitz den öffentlichen Frieden tief erschüttert – obwohl es ihn gar nicht gegeben, sondern BILD ihn frei erfunden hatte (dazu von Münch: Der Aufstand der Anständigen, NJW 2001, 728, 731, Ziffer 5). Mit leichtem Zynismus ließe sich auch sagen, nicht Straftaten störten den öffentlichen Frieden, sondern der Bericht über sie: ihre Offenbarung. Ein Beispiel dessen liefert Pfeiffer (Fn. 29), indem er Kirsten Heisigs Befunde zu zerreden sucht.

[33] vgl. dazu Mönch v. 11.01.2008 (Fn. 28) : „… Es gibt in den Vierteln von Berlin-Kreuzberg, Neukölln oder Wedding inzwischen eine verunsicherte Bevölkerung, die dem Staat und seiner Durchsetzungsfähigkeit misstraut. Die hinter vorgehaltener Hand einander zuraunen, das nächste Mal setzten sie sich nicht den Folgen einer Zeugenvernehmung vor Gericht aus – den Einschüchterungsversuchen der Familienclans aus der Nachbarschaft, den unverhohlenen Drohungen der Brüder und Onkel …“

[34] In der Kasuistik der Neufassung liegen allerdings auch Probleme, die hier nicht zu debattieren sind.