(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/92) < home RiV >
"Justiz in der Krise?"
- der nichtrichterliche Dienst -

Ein Montagmorgen im September: Wir sehen eine der modernen Gruppengeschäftsstellen des Amtsgerichts Hamburg, geplant und eingerichtet nach den neuesten Erkenntnissen in der Justizverwaltung, Computerterminals der Siemens-Nixdorf-Mehrplatzanlage und High-Tech-Telefone auf jedem der acht Schreibtische für die Mitarbeiter der Geschäftsstellen und die Protokollführerinnen, nicht zu vergessen: freundliche und funktionale Büromöbel und die obligate Hydrokultur.

Man blickt auf den Sievekingplatz. Die Moderne wird beeinträchtigt durch häßliche hellbraune Aktenberge auf Tischen und Fußböden. Menschenleer ist das Ganze - fast. Allein mit den Grünpflanzen finden wir eine Mitarbeiterin. Sie telefoniert mit einem aufgebrachten Rechtsvertreter. Er möchte partout, daß sie etwas heraussucht, jetzt gleich. Sie sagt, sie könne nicht. Er wird böse. Sie auch.

Dies ist an manchen Tagen nicht Fiktion, sondern bittere Gegenwart. Die Vorstellungen über den humanen Arbeitsplatz in der Justiz, gut ausgestattet, besetzt mit qualifizierten Mitarbeitern, die ihre vielseitige Tätigkeit gerne ausüben, die in ihrer Gruppe die Zusammenarbeit selbst organisieren: Diese Vorstellungen zerbrechen immer wieder an der tristen Wirklichkeit der Personalsituation.

Im Rahmen der Diskussion zum Thema "Justiz in der Krise?" am 19.10.1992 hat der Präsident des Amtsgerichts die Situation mit deutlichen Fakten und Zahlen geschildert:

Die Amtsgerichte weisen in den Bereichen Geschäftsstellen, Protokoll und Schreibdienste 859 verfügbare Stellen aus. Hiervon sind 1/3 Beamte und 2/3 Angestellte. Von diesen Arbeitsplätzen und Dienstposten sind derzeit 120 nicht besetzt, so daß 739 verbleiben. Die Abwesenheitsrate durch Krankheit und Urlaub beträgt 15 %, also 111 Arbeitsplätze bzw. Dienstposten. Die tatsächlich verfügbare Regelbesetzung besteht dementsprechend aus 628 Mitarbeitern und macht 73 % der an sich verfügbaren Stellen aus. Kumulieren nicht besetzte Stellen, Krankheit und Urlaub zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Arbeitseinheiten, so führt dies zu unhaltbaren Zuständen, wie sie eingangs beschrieben wurden, und wie sie in den Zivildezernaten des Amtsgerichts in diesem Sommer und Herbst auftraten:

Eingehende Klagen wurden nicht mehr registriert und stapelten sich als Papierhaufen in der Geschäftsstelle. Sie blieben einfach uneingetragen liegen. Die Akten wurden weder dem Richter vorgelegt noch sonst bearbeitet. Post konnte nicht in die Akten einsortiert werden, so daß Schriftsätze auch in Eilsachen nicht dem Richter vorgelegt wurden. Längst verfügte Ladungen wurden nicht ausgeführt, die Termine mußten abgesetzt werden. Die Regelbesetzung wurde in diesen Bereichen um 50 % oder noch mehr unterschritten. Das kleine Schreibwerk, wie Ladungen und Verfügungen, wurde wegen dieser Engpässe teilweise in den zentralen Schreibdienst verlagert. Hier standen die Stammdaten nicht zur Verfügung und mußten wieder mit der Hand eingegeben werden.

Die Äußerungen des Generalstaatsanwaltes in der damaligen Diskussion könnten den Schluß nahelegen, daß bei der Staatsanwaltschaft alles zum Besten steht - hierzu hört man von den betroffenen Staatsanwälten anderes. MHR wird darüber demnächst ausführlich berichten. Man kann und muß die Darstellung der Misere, wie zu zeigen sein wird, auch auf die Staatsanwaltschaft beziehen.

Die Ursachen für die bestehenden Probleme, die sich künftig eher noch verschärfen werden, sieht der Amtsgerichtspräsident, wie in der Diskussion dargelegt, in zwei Schwerpunktbereichen: In der fehlenden Ausbildung von Justizangestellten und in der veralteten Tarif- und Besoldungsstruktur.

Eine Justizausbildung existiert in Hamburg nur für Beamte, nicht aber für Angestellte, die beim Amtsgericht 2/3 des nichtrichterlichen Dienstes ausmachen. Dies wird unter Hinweis auf das Berufsbildungsgesetz vom 14.8.1969 (BGBl I S. 1112) und das Berufsbildungsförderungsgesetz vom 23.12.1981 (BGBl I S. 1692) begründet, wonach eine landeseigene Regelung der Ausbildung von Justizangestellten rechtlich nicht möglich sei. Daß es in Niedersachsen eine Ausbildung für Kanzleikräfte gibt, erklärt sich aus § 108 Berufsbildungsgesetz, der Besitzstände wahrt. Ob diese Rechtslage als endgültig angesehen werden muß, ist zweifelhaft. Zum einen wäre zu prüfen, ob nicht das geltende Recht über den Gedanken des Sachzusammenhangs mit der Ausbildung für Beamte auch die der Angestellten erlaubt (vergleiche dazu Fredebeul, Bake, Krebs, Berufsbildungsförderungsgesetz, 1982, § 1 Anm. 14), zum anderen wäre durchaus eine Gesetzesinitiative denkbar, insbesondere im Verein mit den neuen Bundesländern, die dem derzeitigen Zustand abhilft.

Dieser sieht heute praktisch so aus:

Froh über eine/n Freiwillige/n, die/der für die Justiz arbeiten will und hierfür annähernd geeignet erscheint, wird dieser Mensch eingestellt. "Learning by doing" heißt nun die Devise. So wird Mann oder Frau an die Computerterminals gesetzt, darf eine Weile zusehen, erfährt dies und das über Ladungen, Zustellungen und andere Verfahrenshindernisse. Eines Tages dann kreist der eigene Finger suchend über der Tastatur, um die Terminsrolle selbst aufzurufen. Der Tutor aus dem Kreise der Mitarbeiter atmet auf. Auch der schon leicht verärgerte Richter ist halbwegs zufrieden. Es ist geschafft.

Kommt unser Mensch nun zur Ruhe, nachdem er das Allernötigste gelernt hat, sieht er einmal aus den Aktenbergen, bemerkt er/sie ein Phänomen: Mit dem was er/sie kann, läßt sich außerhalb der Justiz mehr anfangen - "mehr" zahlt sich in klingender Münze aus. Mit Sicherheit kann der aufmerksame Angestellte mit 300.-/Monat zusätzlich rechnen, wenn er/sie sich außerhalb der Justiz verdingt. Es sollen schon Protokollführerinnen direkt aus dem Sitzungssaal abgeworben worden sein.

In Joachim Metzingers Zahlen liest sich das so: eine jährliche Fluktuation von 120 Mitarbeitern, Leuten, die unter Einsatz vorhandenen Kräfte angelernt wurden, in der Anfangsphase unterstützt werden mußten und uns dann verlassen, um - teilweise jedenfalls - neuen, unausgebildeten Kräften Platz zu machen. Aber es sind nicht nur die Angestellten, die Sorgen bereiten. Die sechs Hamburger Amtsgerichte mit 40 offenen Stellen im Beamtenbereich müssen sich in diesem Herbst fünf Anwärter des mittleren Dienstes teilen. Es besteht bei solchem Verhältnis nicht die geringste Aussicht, auch nur den gegenwärtigen Leistungszustand zu halten, geschweige denn, ihn endlich wieder zu verbessern.

Das "rechnet sich nicht" - selbst Hamburger Pfeffersäcke müßten dies begreifen. Statt dessen beschließt der Haushaltsausschuß der Bürgerschaft - offensichtlich vollkommen entnervt vom ewigen Argument, ein Justizsenator könne nichts zur Beschleunigung von Verfahren unternehmen - wegen der richterlichen Unabhängigkeit nämlich - einen kritischen Blick in den täglichen Bereich dieser nicht faßbaren Nebelwesen "Richter" zu unternehmen und dazu eine weitere Untersuchung in Auftrag zu geben. Und damit nicht genug, auch die Staatsanwälte sollen untersucht werden. Worauf? Auf ihre Effektivität. Ein weites Feld, wie Herr Bertram in diesem Heft darlegt (JUSTIZ IN DER KRISE - Eine Nachlese-).

Nachdem zwei Unternehmensberater ihre wissenschaftliche Neugier den Geschäftsstellen und der Verwaltung zugewandt haben, sollen die Veranlasser all dieser lästigen Arbeiten wie Ladungen, kleinen und großen Schreibwerks jetzt besichtigt werden. Dies alles natürlich ausdrücklich unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit. Letzteres ist diese lästige verfassungsrechtliche Einrichtung, die es der Exekutive und Legislative verwehrt, gänzlich zu tun, was sie möchte. Und man muß doch mal sehen, ob sie sich nicht auch in Hamburg auf ihren allernötigsten Kernbereich reduzieren läßt. Sonntagsreden über den demokratischen Rechtsstaat und die richterliche Unabhängigkeit als deren Eckpfeiler sind das eine; es darf aber nicht stören im exekutiven und legislativen Alltagsgeschäft......

Zurück zum nichtrichterlichen Dienst. Eine der Ursache der mangelnden Bereitschaft, für die Justiz zu arbeiten, ist die veraltete Tarif- und Besoldungsstruktur. Die Bereitschaft, hier zu modernisieren, besteht offensichtlich bei den Tarifministern der Ländern nicht, die gelegentlich kostenlose Absichtserklärungen abgeben oder Kommissionen bilden. Wir arbeiten mit den Tarifstrukturen der Ärmelschonerzeit. Die Arbeit der leistungsfähigen und leistungsbereiten Mitarbeiter an den Terminals der Gruppengeschäftsstellen hat aber heute schon eine gänzlich andere Qualität. Die Idealvorstellung dessen, was heute in vielen Bereichen der Justiz schon machbar wäre, hat die Unternehmensberatung Kienbaum in ihrem Gutachten vom 6.12.1990 beschrieben: Service-Einheiten, die eine Zusammenfassung zwischen Geschäftsstellenverwaltung und Kanzlei darstellen, und deren Aufgaben noch darüber hinausgehen:

"Die Alternative zu Kanzlei und Geschäftsstelle liegt in Service-Einheiten, deren Mitarbeiter den gesamten Geschäftsablauf für Richter überwachen, koordinieren und ggf. selbständig durchführen können. Die bisherigen Arbeitsfelder werden zu einem Mischarbeitsplatz zusammengeführt, der beide Funktionen umfaßt.

Die Mitarbeiter der Service-Einheit werden damit zu einer Art "Verfahrensassistenten". Sie begleiten das gesamte richterliche Verfahren von Anfang bis zu Ende. Sie übernehmen die Neuanlage der Akten, sie führen die Registratur, sie sorgen für die rechtzeitige Vorlage der Akten, sie überwachen die Fristen, sie übernehmen die Ausfertigung des dazugehörigen Schreibwerks, sie führen den Protokolldienst durch, sie setzen die richterlichen Verfügungen um."

"Ihre volle Wirksamkeit kann die Service-Einheit nur dann entfalten, wenn sie unmittelbar an einen bestimmten Richter angebunden ist. Die Service-Einheit ist dann in der Lage, individuell den Anforderungen des einzelnen Richters Rechnung zu tragen. Aktenmanagement und Textgestaltung können auf die Bedürfnisse des einzelnen Richters abgestimmt werden."

Soweit die Berater des Unternehmens Kienbaum, die in einer solchen Service-Einheit den Übergang zur Richterassistenz sehen, die den Richter in weiterem Umfang als bisher unterstützt und ihn für die eigentlichen richterlichen Aufgaben freistellt (Als Beispiele werden das Führen einer Falldokumentation oder eine JURIS-Recherche genannt). Heute wird ein Großteil richterlicher Arbeitskraft von eigentlichen Geschäftsstellenarbeiten oder zumindest deren enger laufender Überwachung absorbiert. Wir erleben täglich, wie weit wir von der oben zitierten Beschreibung entfernt sind und nehmen als Richter dankbar zur Kenntnis, daß wenigstens das Unternehmen Kienbaum meint, die Umstände hätten sich dem Richter anzupassen, und nicht der Richter seinen Stil den Textbausteinen und anderen "Sachzwängen".

Auf Arbeitsplätzen der beschriebenen Art, auf denen die Gruppenmitglieder alle anfallenden Arbeiten verrichten und sich gegenseitig auf gleichbleibendem Niveau vertreten können, müssen selbstverständlich die Glieder der Gruppe gleichmäßig besoldet werden. Daran fehlt es aber, und das ist eine der bestehenden Mißlichkeiten.

Ansätze zur Behebung der Probleme gibt der Präsident des Amtsgerichts gleichfalls mit auf den Weg - Maßnahmen, die Hamburg auch ohne einen bundesweiten Konsens treffen könnte, um die Besonderheiten der Justiz dieser Stadt zu meistern. Sie setzen nur die nötige Bereitschaft und vielleicht auch die nötige Phantasie der Verwaltung voraus:

· Hamburg muß seiner besonderen Situation als Ballungszentrum mit expandierendem Charakter durch entsprechende Zulagen und Zuschüsse, z.B. für Fahrtkosten der Mitarbeiter aus dem Umland, Rechnung tragen.

· Hamburg muß angesichts der fehlenden Ausbildung von Justizangestellten und den zu geringen Ausbildungskapazitäten den Beamtenanteil vergrößern.

· Das System der Dienstpostenbewertung in der streitigen Gerichtsbarkeit und den Staatsanwaltschaften darf nicht länger auf die Bereiche A 5 bis A 7 festgeschrieben bleiben.

· Für die hamburgische Besonderheit des Kostenbeamten im mittleren Dienst (AV-20- Beamter) müssen Ausbildungsstellen vorgesehen werden, damit deren Ausbildung nicht die entsprechenden Kräfte der Praxis entzieht.

· Unter Umstände müßten für eine Übergangszeit Verkürzungen der Ausbildungsgänge und eine Ausweitung der Ausbildungsplätze bedacht werden.

· Teile der Hamburger Justiz haben eine technisch und organisatorisch vergleichsweise hochentwickelte Ausstattung. Den dort tätigen Mitarbeitern darf nicht länger eine sachgerechte, einheitliche und adäquate Bezahlung verweigert werden.

· Eine weitere Verbesserung der Büroausstattung mit Technik und Büromöbeln im heutigen Standart und eine Weiterentwicklung der Strukturen wird dazu beitragen, den Arbeitsplatz Justiz attraktiver zu machen.

Es ist nicht nur die Höhe des Gehaltes, es sind auch das Arbeitsumfeld und der Umgang miteinander, die eine Tätigkeit als befriedigend erscheinen lassen.

Vor allem brauchen die Mitarbeiter eine Perspektive. Ihre Motivation ist teilweise - noch immer - außerordentlich hoch. Durch die ständige Vertretung und das Fehlen jedes Vertrauens auf Abhilfe durch die Verantwortlichen bricht diese Motivation aber immer mehr zusammen. Die Folge sind Resignation und Flucht in die Krankheit. Eine Erkältung oder ein Halswirbelsäulensyndrom steht man als motivierter Mitarbeiter, der sein Dezernat auf dem laufenden halten will, am Arbeitsplatz durch. Stimmt aber das Arbeitsklima nicht, ist man gebeutelt von wochen- oder monatelanger Mehrarbeit, fühlt man sich ungerecht behandelt und vernachlässigt, läßt dieser Antrieb völlig natürlich nach.

Das Gespräch mit den Mitarbeitern der Geschäftsstellen und des Protokolls zeigt es deutlich - sie fühlen sich allein gelassen mit dem Unmut der Prozeßbeteiligten. Sie erwarten die Bereitschaft ihrer Behörde, für sie auch nach außen einzutreten, und sie sind immer weniger bereit, als Ende einer Kette von Unzulänglichkeiten den eigenen Kopf hinzuhalten. Sie sind nicht schuld an der Misere, aber sie baden sie aus. Dies wird unsere Behörde in der nächsten Zeit energisch anpacken müssen, sonst gibt es sie wirklich dauerhaft - die Krise in der Justiz, ganz ohne Fragezeichen.

Karin Wiedemann