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Ein Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Justiz - wozu?

"Man muß dem Menschen einen Igel unter die Schädeldecke setzten", sagte Maxim Gorki, "damit er sich nicht beruhige.".

Daran gewöhnt, das nationalsozialistische Unrecht in großen Dimensionen zu sehen, in Massenvernichtungen, Gestapo-Terror, unbegreiflichen Todesurteilen, ergreift manchen der Gedanke, 50 Jahre nach Kriegsende, nach 45 Jahren demokratischem Rechtsstaat, solle das Thema nun endlich ruhen. So war es im letzten Mitteilungsblatt in der Zuschrift des pensionierten ehemaligen Vorsitzenden des Staatsschutzsenats, Herrn Bürrig, zu lesen. Resonanz auf diese Meinungsäußerung hat es unter den Lesern nicht gegeben.

Hemmungsloser Staatsterror, menschenverachtende Justiz mögen für uns heute - jedenfalls im kleinen Mitteleuropa - wie ein fernes historisches Ereignis erscheinen und die Sonntagsreden, man müsse sich erinnern, um Wiederholungen zu vermeiden, wie schale Pflichtübungen klingen. Aber betrachten wir die Justiz des nationalsozialistischen Staates in ihren kleinen und nicht so spektakulären Fällen. Hier zeigt sich viel deutlicher der flächendeckende Verfall der Rechtskultur. In ihnen wird begreiflich, daß Strukturen wirksam waren, die nicht so weltenfern sind.

Ein Fall: Ein elfjähriges Mädchen verweigert in der Schule den "Deutschen Gruß". Das Jugendamt beantragt beim Vormundschaftsgericht, den Eltern das Sorgerecht für das Kind und seine sechsjährige Schwester zu entziehen. Die Eltern verweisen auf ihre religiösen Grundsätze. Das Sorgerecht wird in zweiter Instanz entzogen.

(Aus dem Richterbrief des Reichsjustizministeriums vom 1.12.1942, zitiert nach: Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich, 1978)

Ein weiterer Fall: Ein nicht vorbestrafter 19jähriger polnischer Schlachtergeselle, der im Gemeinschaftslager lebte, stahl während des Krieges aus dem Luftschutzkeller seines Arbeitgebers zwei Koffer mit Wäsche, Stoffen und Kleidung - morgens zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr. Er wurde wegen Plünderung zum Tode verurteilt. Sein Tat wertete das Gericht als erschwerendes "Verdunkelungsverbrechen". Dies begründet das Urteil wie folgt: "Er hat wahrscheinlich bei Begehung des Einstiegsdiebstahls auch die Verdunkelungsmaßnahmen ausgenutzt. Nach seinen eigenen Angaben ist er um halb sieben Uhr herum eingestiegen. Um halb sieben war die offizielle Verdunklungszeit beendet. Es mag sein, daß er eben nach 6.30 Uhr den Diebstahl ausführte: Dämmrig war es nach den Angaben des Angeklagten ohnehin noch." (Zitiert nach dem Redemanuskript Senator Curillas vom 21.1.1991)

Nicht nur im strafrechtlichen Bereich manifestiert sich das Wirken der nationalsozialistischen Justiz - auch in dem zuerst geschilderten Fall aus dem Vormundschaftsrecht zeigt sich das tückische, schleichende Eindringen nationalsozialistischen Gedankenguts in das "Rechts"leben. Die vormundschafts"recht"liche Praxis konnte nach dem Kriege nahtlos durch die ehemalige DDR übernommen werden, wie man aus den Sorgerechtsentscheidungen unter der Herrschaft Margot Honeckers weiß.

Bernd Rüthers hat in seinen Büchern "Die unbegrenzte Auslegung" (1973) und "Entartetes Recht" (1988) die juristischen Gedankenspiele beschrieben, die diesen politischen Entscheidungen die intellektuelle Stütze geben sollten. Aussprüche wie: "Die Machtergreifung des Nationalsozialismus ist als rechtsänderndes Ereignis zu begreifen" und "Die wirkliche Lebensordnung des Volkes stellt die Kernsubstanz des Rechts dar" bildeten den Boden. Sie stammen von Karl Larenz. (aus: Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, 1938).

Vor allem die traditionsreichen Grundbegriffe des Privatrechts, wie subjektives Recht, Willenserklärungen, Vertrag Eigentum u.ä. sollten nun kritisch darauf hin überprüft werden, ob sie nicht einer dem neuen Rechtsdenken fremden, überwundenen Vorstellungswelt angehören. "Konkretes Ordnungsdenken" war die methodische Zauberformel für Rechtsänderungen beim Auftreten veränderter politischer Umstände - Normsetzung ohne Gesetzgebung, nur durch Gerichtspraxis und Jurisprudenz, das war die Hauptaufgabe dieser von Carl Schmitt geschaffenen Rechtsfigur. (Nationalsozialistisches Rechtsdenken, DR 1934, 225, 228) Seinen Höhepunkt fand diese "Rechtswissenschaft" wohl in der Aussage R. Höhns, (Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, 1935), der ausführt: "Der Ausspruch, Recht ist, was arische Menschen für Recht empfinden, birgt in sich das Wissen, daß das Recht seinem Wesen nach unmittelbarer Ausdruck der Blutsgemeinschaft eines Volkes und nicht individueller Satzung ist."

Sowohl die Entziehung des Sorgerechtes an den beiden Mädchen als auch die Verhängung der Todesstrafe gegen den jungen Polen beruhen in der Tat auf der Überwindung für den Nationalsozialismus fremder Vorstellungen und Rechtswelten - denen abendländischer Kultur und Menschlichkeit. Die strenge Bestrafung von Plünderern ist das eine. Das Übermaß dessen, was hier wegen der polnischen Staatsangehörigkeit des Täters gewollt war, ist das andere. Da das geschriebene Recht die gewünschte Rechtsfolge nicht hergab, wurde das konkrete Ordnungsdenken eingesetzt, das es im Verständnis der Urteilenden erlaubte, den (rechtlichen) Zustand der Verdunkelung (bis 6.30 Uhr) gleichzuzusetzen mit dem (tatsächlichen) Zustand der Dämmerung.

Fremde - und deswegen zu überwindende - Rechtsvorstellung war es anzunehmen, daß das Recht für alle gleichermaßen gelte. Dies zeigt sich in Fällen, in denen "nichtarischen" Vertragspartnern wegen dieses Umstandes die vertraglichen Rechte abgesprochen wurden - sei es die abgewiesene Honorarklage eines jüdischen Regisseurs - aus dem Grunde abgewiesen, weil ihm gegen Volksgenossen keine Rechte zustanden - oder die erfolgreiche Räumungsklage gegen die einzige jüdische Mieterin eines Hauses, innerhalb dessen es den "arischen" Mitmietern nicht zuzumuten sei, mit der achtzigjährigen Jüdin weiter unter einem Dach zu wohnen.

Gesteuert wurde die NS-Justiz von den Richterbriefen des Reichsjustizministeriums, der Vor- und Nachschau des Hamburger Oberlandesgerichtspräsidenten Rothenberger und seiner ihm folgenden Kollegen, von gelegentlichen Drohungen gegen die berufliche Position der Richter und - nicht zuletzt auch - von dem inneren Bedürfnis der Richter nach Anpassung an die herrschenden Verhältnisse und die herrschenden Personen, dem Wunsch, im Strom harmonisch mitzuschwimmen, sich ihm jedenfalls opportunistisch anzuschließen. Schließlich hatte man Familie.

Diese Strukturen zu untersuchen, in denen das Unrecht möglich wurde und deren Grundzüge schon in den Kleinigkeiten des Alltags zu erkennen und zu benennen, ist zur Vermeidung von Wiederholungen nötig. Das Grauen vor den spektakulären Greultaten wird uns für die Zukunft nicht allein schützen.Vieles bereitet den Anfang für die Barbarei. Die schwindende Rechts- und Politikkultur ist eines der Elemente, der rücksichtslose Umgang miteinander, ebenso die Unfähigkeit, in demokratischem und rechtsstaatlichen Verfahren getroffene Entscheidungen hinzunehmen, ohne giftig nachzukarten. Als Beispiele seien Entscheidungen von Verfassungsgerichten oder Richterwahlausschüssen genannt.

Es gibt aber auch Gefährdungen in jedem einzelnen. Die Versuchung, keinen Anstoß zu erregen, harmonisch mitzuschwimmen im Strom und dafür manche kritische Bemerkungen an die zuständige Stelle zu unterdrücken, den alltäglichen Problemen ihren Lauf zu lassen, sich vermeintlichen Sachzwängen zu fügen, - das sind Züge, die nicht nur in vergangenen Zeiten gesucht werden sollten.

Eine stete Mahnung zur Zivilcourage kann ein solches Gedenkzeichen auch sein, gegen den Kleinmut, gegen die Gleichgültigkeit, gegen das Zurückweichen gesetzt. Es beginnt damit, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, seinen - wohlüberlegten - Standpunkt nicht zu vertreten. Von hier führt ein weiter, aber ununterbrochener Weg zur gleichgeschalteten Richterperson ("Persönlichkeit" wäre nicht mehr der rechte Begriff) zur gleichgeschalteten Justiz, zur Justiz als willfährigem Herrschaftsinstrument.

Senator Curilla sah solche Probleme nicht, als er am 21.1.1991 eine Tafel enthüllte, die auf dem Sievekingplatz auf ein künftiges Mahnmal hinweist. Er stellte fest, "Das Bewußtsein unter den Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten hat sich gewandelt. Ausdruck dafür ist, daß die Initiative, hier vor den Gerichten, gegenüber dem Eingang des ehemaligen Hanseatischen Sondergerichts ein Mahnmal zu errichten, von Mitarbeitern der Justiz betrieben wird." Er fuhr fort: "Heute ist es zunächst nur eine Tafel, mit der auf die Errichtung eines Mahnmals hingewiesen wird. Mein Bestreben wird jedoch darauf gerichtet sein, daß diese Tafel, die heute ihrer Bestimmung übergeben wird, sobald wie möglich durch ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer auch zur Mahnung an die nachfolgende Generation ersetzt wird."

Bei diesem Wunsch sind wir heute - zwei Jahre später - noch immer. Von Seiten der Justizbehörde ist nichts Substantielles geschehen - jedenfalls soweit dies der Initiativgruppe bekannt geworden ist. Telefonische Anfragen und Briefe wurden von der Justizbehörde nicht beantwortet. Für das Projekt besteht derzeit ersichtlich kein Interesse. Dies obgleich im Sommer 1992 die Staatsräte der Behörden für Justiz, Umwelt und Kultur beschlossen, für den Haushalt 1994 die Mittel für die gärtnerische Umgestaltung des Platzes und das Denkmal einzuwerben, um das Mahnmal 1995, fünfzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, fertigstellen zu können.

Hierauf bezogen habe ich als Sprecherin der Projektgruppe Mahnmal in diesen Tagen die Staatsrätin der Justizbehörde gebeten, den Beschluß nun doch endlich in die Tat umzusetzen. Der Brief hat folgenden Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Staatsrätin, als Sprecherin der Projektgruppe möchte ich unserer Besorgnis über den gänzlich ausbleibenden Fortschritt in dieser Angelegenheit ausdrücken. Wie mir Ihre Behörde durch Schreiben vom 14.7.1992 mitteilte, haben die Staatsräte der betroffenen Justiz- Kultur- und Umweltbehörde im Sommer 1992 beschlossen, die Planungen in der Weise voranzutreiben, daß sie 1995, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, umgesetzt werden können.

Auf diesem Wege ist seither nichts geschehen oder jedenfalls nichts zu Ohren der Projektgruppe gekommen, die dieses Vorhaben initiiert hat. Unser Schreiben vom 25.8.1992, mit dem um Sachstandsmitteilung und Beteiligung an den weiteren Planungen gebeten wurde, hat die Justizbehörde bisher nicht beantwortet.

Der bisherige Gang der Angelegenheit ist aus ihrer Akte ersichtlich, ich will ihn deswegen nicht referieren, sondern nur darauf hinweisen, daß seit dem Tag, an dem Senator Curilla die Tafel, mit der das Projekt angekündigt wird, der Öffentlichkeit übergeben hat (21.1.1991), nichts Greifbares geschehen ist. Ich habe mir erlaubt, einige Aufnahmen des derzeitigen Zustandes des Sievekingplatzes und der Tafel zu machen. Sie sind als Anlage beigefügt und zeigen nicht nur die ungepflegte und lieblos aufgestellte Tafel selbst, sondern auch die Zerstückelung des Platzes, insbesondere durch den Zaun zum ehemaligen botanischen Garten.

Der Sievekingplatz war - worauf angesichts seines traurigen Zustandes nicht oft genug hingewiesen werden kann - zur Zeit seiner Fertigstellung 1913 eine vielgelobte städtebaulich einzigartige Anlage, innerhalb derer das Ensemble der umliegenden Gerichtsgebäude durch eine gärtnerische Anlage und ein Wasserbecken verbunden wurden. Die Brunnenfiguren, die eine Allegorie der drei das Oberlandesgericht tragenden Hansestädte und der Erwerbszweige dieser Städte darstellen, sind noch vorhanden - im Gebüsch. Vorhanden sind auch die Allegorien der großen Reformgesetze des 19. Jahrhunderts, allen voran die der Reichsjustizgesetze. Der Initiator dieser Gesetze. Kaiser Wilhelm I., reitet abseits am Karl-Muck-Platz, ebenfalls im Strauchwerk. Vorhanden sind auch Sandsteinreliefs, die einstmals auf dem Rathausmarkt und später an der Süd-Ostseite des Ziviljustizgebäudes die Figuren miteinander verbanden. Ich füge hierzu eine Zeitungsnotiz bei.

Diese Elemente in einen geordneten Zusammenhang zu bringen, der ihre Bedeutung für das Rechtsleben wieder sichtbar macht, halte ich zusammen mit der Wiederherstellung des Platzes selbst für eine lohnende städtebauliche Herausforderung. Dies hat anläßlich der Eröffnung der renovierten Grundbuchhalle im Mai 1992 auch Oberstadtbaudirektor Kossak erklärt. Das angestrebte Mahnmal selbst, sollte nicht figürlich mit den vorhandenen Bronzen zu konkurrieren suchen, sondern könnte durch einen großen Baum und eine schlichte Widmungstafel verwirklicht werden. Solche natürlichen Mahnmale haben eine reiche Tradition, wie die vorhandene Anlage am Bullenhusener Damm oder die zentrale Gedenkstätte in Israel zeigen. Zudem stünde ein Gerichtsbaum auch in der Tradition der Orte der Rechtsprechung.

Ergänzend füge ich ein Exemplar meines Aufsatzes über Gerichtsgebäude in Hamburg bei, der in den Mitteilungsblättern des Richtervereins erschienen ist und zu den Justiztagen 1992 einen Neudruck durch die Justizbehörde erfahren hat.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich der Sache annähmen. Vielleicht könnte das Instrumentarium des Runden Tisches, zu dem Sie die beteiligten Behörden einladen, hier greifen, um zu klären, wie man das Unternehmen endlich erfolgreich organisieren kann. Es bedarf dringend des Beschlusses, welche Fachbehörde federführend sein soll, bzw. ob die Koordinierung nicht beim Bezirksamt Hamburg-Mitte liegen sollte, im Bereiche dessen sich Herr Illies bereits engagiert mit dem Projekt beschäftigt hat. Angesichts der Vielzahl der beteiligten Behörden ist andernfalls kein Fortschritt zu erwarten.

Mit freundlichen Grüßen." In einem Brief an den Oberbaudirektor Kossak schrieb der Sachbearbeiter der Justizbehörde am 22.2.1991: " Es sollte vermieden werden, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die FHH wolle die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Justiz nur halbherzig betreiben."

In der Tat: Dieser Eindruck sollte wirklich vermieden werden. Über den Fortgang wird MHR berichten.

Karin Wiedemann